© Giulietta Ockenfuß, Foto: Ivan Murzin
Giulietta Ockenfuß, Brisa Marina, Lack auf Stahl, 80 × 60 cm, 2021 ©
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Giuli­etta Ockenfuß und Catherina Cramer, Filmstill aus: Unleash the Beast: Chapter 2 Hagenbecks Zoo, Eingangstor 2020 ©
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Giuli­etta Ockenfuß und Catherina Cramer, Filmstill aus: Unleash the Beast: Chapter 1 Aquatic Ape, Wasseräffin im Interview, 2020 ©
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Giuli­etta Ockenfuß und Catherina Cramer, Filmstill aus: Unleash the Beast: Chapter 1 Aquatic Ape, Sami unter Wasser, 2020 ©
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Giuli­etta Ockenfuß und Catherina Cramer, Filmstill aus: Unleash the Beast: Chapter 1 Aquatic Ape, Laminas, 2020 ©
© Bildrechte liegen bei der Künstlerin, Foto: Angelika Zinzow
Giulietta Ockenfuß, Ausstellungsansicht Creating a we in der Basis Frankfurt, Panel 2, (Detail), Zeichnungen und Siebdruck auf Leinen, 2020 ©

stipendiatin giulietta ockenfuß

Giulietta Ockenfuß’ Gemälde und Zeichnungen sind narrativ. Sie erzählen dichte, knallbunte Geschichten über Protagonistinnen und Protagonisten, die sie über einen längeren Zeitraum bildübergreifend in ihrer Arbeit begleiten. Sie sind gleichzeitig humorvoll, angriffslustig und konfrontativ und unterlaufen die normierten Darstellungsmodi weiblicher und männlicher Figuren. Ihren individuellen künstlerischen Ansatz verbindet Giulietta Ockenfuß mit zum Teil langjährigen Kooperationen, in denen Performances und Musik eine zentrale Rolle spielen. In Zusammenarbeit mit der in Düsseldorf lebenden Künstlerin und Filmemacherin Catherina Cramer entstand 2020/21 ihre erste filmische Arbeit. Unleash the Beast ist eine mehrteilige Videoserie, die die Formate von Fernsehdokumentation und Spielfilm miteinander verbindet. Überthema ist das Element Wasser. Das erste Kapitel erzählt von einem weiblichen Wasseraffen, dessen Lebensweg eine feministisch geprägte Evolutionsgeschichte imaginiert. Das Filmmaterial entstand während zwei mehrmonatiger Recherche- und Arbeitsaufenthalte der Künstlerinnen in Mexiko, die durch Giulietta Ockenfuß’ Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung ermöglicht wurden.

Im März 2021 traf sich Giulietta Ockenfuß mit der Kuratorin und Kritikerin Ania Czerlitzki zu einem Gespräch am Liebfrauenberg, einem der schönsten Plätze der Frankfurter Innenstadt.

Ania Czerlitzki Deine neueste Arbeit Unleash the Beast entsteht in Kooperation mit der Filmemacherin Catherina Cramer. Den ersten Teil der mehrteiligen Serie habt ihr bereits im Zuge eines von der Julia Stoschek Collection organisierten Online-Screenings veröffentlicht. Das filmische Material hierzu habt ihr während zwei gemeinsamer Aufenthalte in Mexiko zusammengetragen. Woher kommt euer Interesse für das Land? Und wie kam es zu eurer Zusammenarbeit?

Giulietta Ockenfuß Die Malerei und Zeichnung sind der Ausgangspunkt meiner Arbeit. In ihnen beschäftige ich mich seit dem Studium mit der modernen Kunst Mexikos und ihrem Einfluss auf die westliche Kunstgeschichte. Vor allem aufgrund des Nachdenkens über die mexikanische Malerei und meinen persönlichen malerischen Bezugs dazu ist die Idee entstanden, nach Mexiko zu reisen. Gleichzeitig kam Catherina Cramer auf mich zu, weil sie in Mexiko einen Film drehen wollte. Sie hatte aus unserer gemeinsamen Zeit an der Kunstakademie in Düsseldorf noch präsent, dass ich mich mit dem Land und der Kultur auseinandersetze und mich mit dem Thema auskenne. Film habe ich bis dahin noch nicht gemacht, und ich fand es spannend, etwas auszuprobieren, was es so noch nicht in meinem Repertoire gab.

Czerlitzki Würdest du zustimmen, dass man die Arbeiten mit dem Begriff „pseudodokumentarische Videoserie“ beschreiben kann?

Ockenfuß Ich empfinde den Ausdruck pseudodokumentarisch als schwierig, obwohl auch verständlich ist, warum dieser Eindruck aufkommt. Die Arbeit setzt sich zusammen aus fiktionalen und dokumentarischen Elementen. Catherina Cramer und mir war in der Zusammenarbeit wichtig, dass sich diese Bereiche nicht zu sehr verschränken und keine Unkenntlichkeit entsteht. Natürlich sind die fiktionalen Charaktere erfundene Figuren, sie sind allerdings klar als fantastische Wesen erkennbar. Außerdem arbeiten wir in Abgrenzung dazu mit realen Interviewpartnerinnen und -partnern, die von ihrem Alltag berichten.

Czerlitzki Gab es einen bestimmten Grund, so zu arbeiten?

Ockenfuß Nach der ersten Recherchereise haben wir uns für diese Form entschieden, da wir gemerkt haben, dass wir gewisse Erwartungen und Vorstellungen von Mexiko hatten, die sich zum Teil nicht mit unseren Erfahrungen dort gedeckt haben. Das hat uns gezeigt, dass unsere Arbeitsstruktur möglichst offen sein muss. Zudem wollten wir mit leichtem Gepäck reisen, im konzeptionellen Sinne, aber auch was die eingesetzte Technik angeht. Damit wir in der Lage waren, schnell und flexibel auf die unterschiedlichsten Situationen zu reagieren. Vor allem aber auch, um einfacher und direkter auf Personen zuzugehen und spontan an Situationen zu partizipieren. Unser Arbeitsprozess ist offen und prozessual, weil wir uns von unserer Fremdheit und der daraus erwachsenen Neugier haben leiten lassen. Meine Skizzen und Zeichnungen haben mir dabei geholfen, die komplexen Prozesse der Selbstreflexion zu verstehen und viele zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen.

Czerlitzki Wie würdest du die erste Folge von Unleash the Beast zusammenfassen, und wie habt ihr sie entwickelt?

Ockenfuß Es wurde sehr schnell klar, dass wir mit Masken arbeiten wollten, und das in Zusammenarbeit mit Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerkern. Das Kunsthandwerk hat ja einen wichtigen Stellenwert in Mexiko. Auch in diesem Punkt wurden meine Zeichnungen wieder wichtig. Ich spreche zwar spanisch, es gab aber auch Sprachbarrieren. Die haben sich aber durch die Zeichnungen überwinden lassen. Diese so entstandenen Masken stellen im fertigen Film die Charaktere dar. Zeitgleich mit den Masken haben wir die Hauptfigur entwickelt, einen weiblichen Wasseraffen. Sie hat immer konkretere Formen angenommen, je länger wir mit der Maske agierten. Die Figur steht in direktem Zusammenhang mit dem Hauptmotiv Wasser und leitet die Betrachterinnen und Betrachter durch den Film.

Czerlitzki Kannst du noch mehr über diese Hauptfigur erzählen?

Ockenfuß Wir haben sie der Theorie der feministischen Schriftstellerin Elaine Morgan (1920–2013) entlehnt. Morgans Arbeit war in den 1970er Jahren zwar recht populär, aber im Wissenschaftsbetrieb nicht anerkannt. Sie hat die Lücken der evolutionswissenschaftlichen Erklärungen zur Herkunft des Menschen für ihre eigenen Ideen genutzt. Es gibt viele Theorien, die auf ihre jeweilige Weise glaubhaft, schlussendlich aber nicht lückenlos zu beweisen sind, da keine sprechenden Quellen vorliegen. Wissenschaftliche Narrative können Ungleichheit zwischen Menschen und althergebrachte Machtstrukturen begünstigen. An diesem Punkt hat Morgan angesetzt und eine evolutionstheoretische These von Alister Hardy (1896–1985) weiterentwickelt, in der der weibliche Affe die Hauptrolle spielt. Dieses Fantasiepotenzial fanden wir reizvoll. Wir haben die Figur aus Morgans Schriften herausgelöst und für den Film verwendet.

Czerlitzki Was interessiert dich persönlich an der Figur der Wasseräffin?

Ockenfuß Als ich auf die von Elaine Morgan entwickelte Figur gestoßen bin, hat mich daran angesprochen, dass ich mich erstmals spontan mit einer Herkunftserzählung identifizieren konnte. In der evolutionären Erzählung vom Jäger (Homo erectus) komme ich als Frau ja gar nicht vor. Das Ausschlaggebende an den Herkunftserzählungen ist, dass es ein sehr umkämpfter Bereich ist. Alle Ideologien, von den verschiedenen Religionen über die Geisteswissenschaften bis zu den Naturwissenschaften, haben ihre Antworten auf diese große, existenzielle Frage unserer Entwicklung. Im Unterschied zu meiner Arbeit als Künstlerin existiert dort ein Deutungsmonopol. Die Ideologien haben ein Interesse daran, dass ihre Version die allgemeingültige ist, die dann als Wahr­heit dasteht. In den prähispanischen Kulturen Südamerikas regelte sich das Leben beispielweise über die sogenannten Codices. Das sind in Bildsprache verfasste Bücher, teilweise auch Kalender, die die Welt beschreiben, unter anderem auch die Entstehung des Kosmos und der Menschheit. Daran, dass die Spanier, als sie dort eingefallen sind, die meisten Codices verbrannt haben, sieht man, dass das eine Machtfrage ist. Der Hauptteil der übrigen Codices wurde dann nach Europa gebracht. Ich denke, es ist kein Zufall, dass sich zwei der wichtigsten, der Codex Borgia und der Codex Vaticanus B, in der apostolischen Bibliothek im Vatikan befinden. Jahrelang waren diese Codices schwer zugänglich, seit einiger Zeit stehen sie der Welt online zur Verfügung.

Czerlitzki Das klingt, als hättest du dich sehr intensiv mit diesen Codices beschäftigt, stimmt das?

Ockenfuß Ja, das ist richtig. Mich interessiert es, wie genau frühe indigene Gemeinschaften in Mittel- und Südamerika wie die Maya, Azteken oder Mixteken ihr Wissen kodierten. Ein For-schungsprojekt der Uni Marburg und der Uni Warschau geht übrigens ganz ähnlichen Fragen nach – welche Rolle zum Beispiel diese Kommunikationssysteme für die Schriftforschung und Wissensvermittlung spielen. Wie haben indigene Gemeinschaften miteinander kommuniziert? Ich untersuche das eben in meiner Kunst und reagiere darauf. Diese alten Systeme zielen nicht auf eine Kodierung von Sprache ab, sondern vermitteln ihr Wissen an alle Empfängerinnen und Empfänger, unabhängig von der Sprache, die man spricht. In Mexiko werden bis heute Bildtafeln, sogenannte laminas, im Unterricht verwendet, die man für ein paar Cent in Schreibwarenhandlungen kaufen kann. Ich bin der Meinung, dass diese modernen Bilderschriften sich auf eine ganz alte Tradition beziehen.

Czerlitzki Ein weiteres wichtiges Thema, das sich mit der Narration verknüpft, ist der Tourismus. Was hat euch daran gereizt?

Ockenfuß Im ersten Kapitel von Unleash the Beast geht es gleichzeitig auch um touristische Selbsterfahrungstrips. Sie haben ihren Ursprung im Rucksacktourismus der 1970er Jahre. Das hält sich ja bis heute, dass westliche Touristinnen und Touristen in sogenannte exotische Länder fahren, um sich selbst näherzukommen. Indem wir Begegnungen, auch Zufallsbekanntschaften, ernst nehmen und Interviewsituationen herstellen, machen wir den Versuch, das auf humorvolle, genauso wie auf kritische Weise aufzunehmen.

Czerlitzki Der Tourismus scheint für euch vor allem ein Schlüssel gewesen zu sein, um euch eure eigene Position während des Arbeitsaufenthalts bewusst zu machen. Ihr habt häufig Personen und Orte aufgesucht, die durch Tourismus geprägt sind.

Ockenfuß Ja, das war ein Punkt. Wir wollten abbilden, dass wir unweigerlich ja auch Teil dieser Gruppe sind. Es sollte klar werden, dass wir uns dem Kontext von außen nähern. Was wir dementsprechend nicht wiederholen wollten, war das, was schon im Zuge des Alternativtourismus problematisch geworden ist – nämlich immer auf der Suche nach dem nächsten Geheimtipp zu sein. Manche Orte sollten tatsächlich ein Geheimnis bleiben. Es gibt bestimmte kulturelle Kontexte, in denen das Geheimnis unbedingt schützenswert ist.

Czerlitzki Ich würde gern noch einmal genauer auf eure Arbeitsweise während der Dreharbeiten eingehen.

Ockenfuß Aus dem Improvisieren heraus wurde dann klar, dass der Dialog zwischen uns, den Gesprächspartnerinnen und -partnern, und zwischen den fiktiven Figuren sehr wichtig ist. Parallel dazu wurden die erdachten Charaktere immer konkreter. Das erste Mal, als wir die Maske der Hauptfigur in der Hand hielten, war das ein Schreckmoment. Sie fühlte sich fremd an. Wir haben die Maske nicht selbst hergestellt, sondern der Kunsthandwerker Gilberto Linares. Indem wir sie dann benutzten oder sie spontan einer anderen Person in die Hand gaben und diese in ein Gespräch verwickelten, lernten wir nicht nur das Objekt kennen, sondern auch die fiktive Figur, die darin steckte. Das alles fällt in den Bereich des dialogischen Arbeitens.

Czerlitzki Durch die Moderation, die ihr im Nachgang eurer beiden Aufenthalte in Mexiko aufgenommen habt, behaltet ihr euch die Option vor, das Filmmaterial kritisch zu hinterfragen, zu kommentieren und auch euch selbst in einem ironischen Licht zu sehen. Es macht deutlich, dass ihr euch eurer Position, aus der heraus ihr erzählt, sehr wohl bewusst seid.

Ockenfuß Zurück in Deutschland, bei der Durchsicht des Materials, ist uns klar geworden, dass wir noch weitere Erzählebenen hinzunehmen möchten. Wir haben entschieden, dass wir eine kommentierende Stimme im Video brauchen, wie man sie aus Fernsehdokumentationen kennt. Sie fügt zusammen und gibt dem Publikum Sicherheit, indem sie Dinge erklärt.
Viel wichtiger war aber, dass die Erzählebene die Option eröffnet, Fehler zu machen, sie wahrzunehmen, zu reflektieren und offen damit umzugehen. Das setzte einen ernsthaften Lernprozess in Gang. Denn in meiner Funktion als Erzählerin kann ich auch noch im Nachhinein fragen: „Was war denn da in der Situation gerade los?“

Czerlitzki Du hast im Laufe des Gesprächs den Begriff „dialogisches Arbeiten“ verwendet. Diese Praxis ist für dich auch jenseits der Kooperation mit Catherina Cramer wichtig. Diese Art des Arbeitens läuft parallel zu deiner individuellen Praxis als Malerin. Wie definierst du beide Bereiche für dich?

Ockenfuß Ich bin nicht jemand, der nur individuell arbeitet, sondern auch gemeinschaftlich. Aus meiner Erfahrung heraus entsteht da eine interessante Wechselwirkung, wenn starke, selbstbewusste Einzelpositionen mit klaren Haltungen aufeinandertreffen. Wenn man mit jemandem zusammenarbeitet, ist man dazu gezwungen, sich Dinge, den Arbeitsprozess betreffend, klarzumachen und sie auszuformulieren. Dabei entsteht ein produktives Spannungsfeld. Wenn du dich mit jemandem unterhältst, bist du gezwungen, deine Position zu definieren. Das ist sehr pro­duktiv. Aber an einem bestimmten Punkt muss der Prozess dann abgeschlossen sein.

Czerlitzki Während der Entstehung des Films sind Zeichnungen entstanden. Wie haben sich der Mexiko-Aufenthalt und die Produktion des Films auf deine malerische Praxis ausgewirkt?

Ockenfuß Für meine Bilder sind Figuren und Figurenkonstellationen zentral. Durch die Zeichnungen und Skizzen, die in Mexiko entstanden sind, wie auch durch den Film sind neuartige Charaktere in meiner Malerei aufgetaucht. Es handelt sich hierbei nicht um gewöhnliche Menschen, sondern um Schwellenwesen zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Pflanze. Das ist ein inhaltliches Novum in meiner Arbeit. Ein Beispiel ist eine Mandelblüte, die in ihr eigenes Spiegelbild verliebt ist. Sie ist die Protagonistin einer zweiten Staffel, die wir, Catherina Cramer und ich, gerade parallel zu entwickeln beginnen.

 

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