editorial
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
wann waren Sie zuletzt mit einer Gämse, einer Geisel und einer Glocke auf dem Pferd über den Zaun nach Dormagen aufs Amt unterwegs? Vermutlich fragen Sie sich, ob die Verfasserin dieser Zeilen angesichts der steigenden sommerlichen Temperaturen bereits einen Sonnenstich erlitten habe. Oder Sie sind Sprachexpert*in und erkennen einen Satz mit wenig Sinn, allerdings voll keltischer Reliktwörter, die aus der eisenzeitlichen Kultur auf uns gekommen sind. Verzeihen Sie den etymologischen Karren, der Sie auf die Hänge und Hügel des Taunus, der Wetterau und des Vogelsbergs ziehen sollte, unter deren Grasnarbe verborgen vergangene, Welten schlummern.
Von der untergegangenen Kultur der Kelten sind fast ausschließlich Objekte überliefert, deren Gebrauch sich gelegentlich erschließt, deren Bedeutung, Herkunft und Funktion ihnen aber nicht grundsätzlich abzulesen sind. In den meisten Fällen fehlt der Kontext, die kulturelle Handhabe. Der Blick auf eine verschüttete Kultur und Kulturpraxis wirft die Frage nach der Aussagekraft von Alltags- oder Kunstobjekten auf, der ihnen vermeintlich eingeschriebenen Bedeutung, ihrem Wert und ihrer Funktion für eine Kultur und ihre Individuen.
In der Keltenwelt am Glauberg und an historischen Stätten und Institutionen in ganz Hessen arbeiten Wissenschaftler*innen an einer lebensnahen Kontextualisierung ihrer Funde aus der Eisenzeit: von Schmuckstücken über Gebrauchsgegenstände oder verkohlte Essensreste bis hin zur experimentellen Archäologie zeigt die Ausstellung Kelten Land Hessen neueste Forschungsergebnisse. Die fein gearbeiteten Schmuckstücke und die rätselhafte Figur des Keltenfürsten vom Glauberg wecken aber auch schlicht die Schaulust. In seinen Entwürfen für das Keramische Atelier Wächtersbach formte der Künstler Christian Neureuther Objekte für den täglichen Gebrauch in der neuen Formsprache des Jugendstils. Sein Werdegang ist demnächst in einer neuen Publikation nachzuvollziehen. Anhand konkreter Einzelobjekte, die sie im Kontext des eigenen Lebens deuten, erzählen Jüdinnen und Juden von ihrem Leben, ihrer Kultur und ihrem Glauben in der Ausstellung Jüdisches Leben in Marburg. Erinnern schafft Identität. Die Ausstellung Frankfurt und der NS – Eine Stadt macht mit zeigt die eingehenden Recherchen zu den Verbindungen der Stadt Frankfurt mit dem NS anhand einzelner Objekte, Biografien und 19 städtischen Orten.
Im Interview reflektiert unsere Stipendiatin Laura Langer, die zurzeit im Londoner Atelier der Stiftung arbeitet, ihren Blick auf die Welt und ihren Versuch, ein persönliches Archiv anzulegen. Das Banale, Wiederholungen und eigenwillige
Perspektiven in ihren Gemälden machen das Veränderliche und Beliebige in den uns umgebenden Dingen bewusst.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre
Ihre
Eva Claudia Scholtz
Geschäftsführerin