Promise, 2021, HD-Video, 8 Min. 4 Sek., Videostill
Memory, 2021, HD-Video, 16 Min. 6 Sek. Videostill
Performer: Ewa Dziarnowska, Steph Quinci, Sophiensäle Berlin / Skulpturen: Untitled (In My Hand a Word – Geländer), 250 × 110 cm, Edelstahl · Untitled (In My Hand a Word – Treppe) 60 × 50 × 120 cm, Edelstahl (Foto: Joseph Kladow)
In My Hand a Word, 2022, Performance ©
All Roads are Open, 2024, Recherchematerial
All Roads are Open, 2024, Recherchematerial

Stipendiat Enad Marouf

Enad Marouf ist ein syrisch-deutscher Künstler, der in Berlin lebt. Maroufs Arbeit umfasst Choreografie, Text, Video und Installation. Er absolvierte seinen Master in Choreografie und Performance am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Seine Arbeiten und Kollaborationen wurden unter anderem auf der Athens Biennale of Contemporary Art, auf dem Kunstenfestivaldesarts Brüssel, in der Shedhalle Zürich und in der Neuen Nationalgalerie Berlin gezeigt. 2023 wurde er mit dem Will-Grohmann-Preis ausgezeichnet.

Elisa R. Linn (Elisa Linn Roguszczak) ist Autorin, Ausstellungsmacherin und Pädagogin. Sie ist Co-Leiterin der Halle für Kunst Lüneburg und lehrt an der Leuphana Universität Lüneburg sowie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie ist Absolventin des Whitney Independent Study Program (ISP) und schreibt unter anderem für das amerikanische Kunstmagazin BOMB und das Magazin Jacobin. Sie ist außerdem Co-Organisatorin des Clubs der polnischen Versager*innen e.V. in Berlin.

 

Elisa R. Linn Für dein jüngstes Forschungsprojekt All Roads are Open, das im Zentrum dieses Interviews steht, willst du die Loci-Methode anwenden, eine beliebte Strategie zum Einprägen von Information. Was bedeutet für dich dieser imaginäre Spaziergang als eine Form der Kartierung, bei der du mit persönlichen, imaginativen und symbolischen Interpretationen von Räumen arbeitest, die über ihre funktionale, territoriale oder geplante Nutzung hinausgehen?

Enad Marouf All Roads are Open begann mit der Idee, Straßen im Libanon, in Jordanien und Ägypten zu filmen, die
denselben Namen haben wie die Straßen in meinem Herkunftsland Syrien. Ausgehend von dieser identischen Namensgebung wollte ich mich den Straßen in Damaskus annähern, in denen ich früher gelebt habe. Als Weg, den Menschen und Orten näherzukommen, die ich verloren habe. Für mich ist dieser Titel von Bedeutung, weil er wie eine Bekanntmachung nach einer Blockade oder einer Situation wirkt, die den Zugang zu diesen Straßen verhinderte. Ich war an einem Forschungsprojekt mit diesem speziellen Titel interessiert, weil er für mich wie eine Bekanntgabe ist, dass ich nun Zugang zu diesen Straßen in meiner Heimat habe, der mir rein physisch jedoch verwehrt bleibt.

Linn Was bedeutet es, eine Karte zu (re-)konstruieren – eine Art „poetische Geografie“ anzuwenden, wie Michel de Certeau es beschrieben hat – und welche Art von öffentlichen Orten sind für dich in diesem Prozess von großer Bedeutung?

Marouf Für mich ist die Loci-Methode eine konkrete Methode, um Zugang zu diesen Straßen zu erhalten. Zum Beispiel, indem ich gedanklich auf der Al-Hamra-Straße in Damaskus spazieren gehe, während ich in Wirklichkeit die Al-Hamra-Straße in Amman entlanglaufe. Mein imaginärer Spaziergang wurde von meiner Kamerabewegung geleitet, als ich den Anfang der Al-Hamra-Straße filmte. Während ich mich an Damaskus erinnerte und dem Parlamentsgebäude folgte, schwenkte die Kamera auf den Garten daneben, doch in Wirklichkeit filmte ich ein Einkaufszentrum in Amman in Echtzeit. Ich folgte meinem imaginären Spaziergang mit meiner Kamera durch die Straße. Die Al-Hamra-Straße in Damaskus ist in erster Linie eine lange Einkaufsstraße, ähnlich wie die
Al-Hamra-Straße in Jordanien. Abgesehen von diesen strukturellen Unterschieden wurde die Verbindung zwischen Nachverfolgung und Erinnerung, Gedächtnis und Bild immer deutlicher erkennbar.

Linn Dein Forschungsprojekt knüpft an deine früheren Arbeiten an, wie etwa an die Videoarbeit Memory. Du verwendest ortsspezifische 3D-Renderings von queeren Cruising-Räumen in Damaskus sowie Filmmaterial von queeren Cruising-Räumen in Berlin. Welche Rolle spielen die Ideen von Unvollständigkeit, Erinnerung und Gedanken als ästhetische Strategie und Thematik in deinem künstlerischen Schaffen?

Marouf Für mich ist der Erinnerungsprozess eine Methode, Erinnerungen in eine Art der Erkenntnis zu externalisieren. Um mich an diese ortsspezifischen Schauplätze zu erinnern oder ihnen wieder zu begegnen, musste ich sie mithilfe dieser 3D-Renderings nach außen verlagern. Interessanterweise war es auch ein sehr ähnlicher Prozess, als ich die Straßen in Amman filmte. Um mich an die Straßen in Damaskus zu erinnern, musste ich sie durch die Kamerabewegung aus meinem Gedächtnis heraus externalisieren – oder ich sah mir ein Bild einer Straße an, die denselben Namen trägt, aber nicht dieselbe Straße ist. Dieser Prozess macht das Abwesende präsenter und das Unbekannte irgendwie vertraut, indem er Erinnerungen und die Wirklichkeit des Raums hinterfragt, abstrahiert und destabilisiert. In diesem Forschungsprojekt oder in meiner Videoarbeit Memory setze ich die Loci-Methode als eine Möglichkeit ein, Poesie und eine ästhetische Navigationserfahrung zu erzielen, um dein Zitat von de Certeaus räumlichem Erzeugen einer „poetischen Geografie“ aufzugreifen.

Linn Hier muss ich auch an die Vielfalt von Erzählperspektiven und die Unvollständigkeit von Erinnerungen denken – an jene Momente und Realitäten, die nie festgehalten werden. Ariella Aïsha Azoulay zum Beispiel beschreibt das Potenzial des „nicht aufgenommenen Fotos“, das viele Formen annehmen kann: eine mündliche Beschreibung, ein Zeugnis, eine Zeichnung oder ein Foto vom Nachstellen des nicht fotografierten Ereignisses auf der Grundlage einer Beschreibung durch Teilnehmende an diesem Ereignis. Inwieweit geht es dir in deiner Arbeit darum, marginalisierte und häufig unterdrückte Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten nachzuzeichnen, die in den vorherrschenden visuellen und historischen Erzählungen nicht berücksichtigt oder anerkannt werden?

Marouf Die Beziehung zwischen Erinnerung, Bild und Sprache spielt in meinen Performances und Videoinstallationen eine wesentliche Rolle. Meistens beginne ich mit dem Persönlichen, um Themen zu artikulieren, die um Verlust, Trauer, Erinnerung, Begehren und Unsicherheit kreisen. Hannah Arendt verbindet in meinen Augen persönliches und politisches Denken, wobei „das Denken aus der lebendigen Erfahrung entspringt“. Diese Verknüpfung spricht mich sowohl persönlich als Mensch als auch als Künstler an.

Linn In deiner Videoarbeit Promise (2021), die ich zum ersten Mal 2023 in der Ausstellung An AIDS Walkthrough bei Instinct in Berlin gesehen habe, konzentriert sich die Kamera beispielsweise auf die fragmentierte, intime Bewegung der Hände eines Tänzers oder einer Tänzer:in und später auf seine oder ihre choreografierten Ballettschritte, ohne jemals das Gesicht oder die Identität zu enthüllen. Stattdessen scheinst du in deiner Videoarbeit den Grenzzustand produktiv zu gestalten, indem du Identitäten, Räume, Vergangenheit und Gegenwart durchquerst und das Filmmaterial mit einer transzendierenden Konversation zwischen einem fiktiven „Ich“ und einem „Du“ überlagerst – letzteres lebte im Nahen Osten und erlebte den AIDS-Tod einer Szene und die traurigen Nachwirkungen. Welche Bedeutung haben die Poetik des Übergangs und der Mehrdeutigkeit in deinem künstlerischen Schaffen?

Marouf Weil die Poetik des Übergangs und der Mehrdeutigkeit den Themen innewohnt, mit denen ich arbeite, entwickeln diese Begriffe in meiner Praxis vielleicht eine große Präsenz. Ich habe explizit mit der Fragmentierung als einem operativen Verfahren gearbeitet. Ich habe eine Praxis der Fragmentierung entwickelt. Dies betrifft nicht nur den Inhalt – die fragmentarische Natur von Erinnerung, Verlust und Begehren –, sondern auch die Form: allgemeine ästhetische Entscheidungen sowie meine Arbeitsmethodik bei der Entwicklung von Werken, ihrer Komposition, Strategien und der gewählten Formate.

In der Videoarbeit Promise gebe ich die Identität oder das Gesicht des Tänzers oder der Tänzer:in nicht preis, weil ich das Gefühl hatte, dass es für Betrachtende persönlicher und intimer ist, ein Gefühl der Anonymität gegenüber dem Text und der Bewegung zu haben, während er*sie die Arbeit betrachtet. Deshalb erwähne ich das Wort AIDS auch nicht im Text. Wenn Worte in einem historischen Kontext verwendet werden, habe ich mitunter das Gefühl, dass überstrapazierte Bilder und Klischees entstehen und das Potenzial der Arbeit in den Hintergrund tritt.

Linn Wie wichtig sind Collage- und Montagetechniken bei der Arbeit mit Video- und Textfragmenten, die sich auf Mnemotechniken beziehen – das Zusammensetzen von Puzzleteilen und die Herausbildung einer Erinnerung (die absichtlich rätselhaft bleibt)? Wenn man zum Beispiel die choreografierten Schritte des Tänzers oder der Tänzerin in Promise verfolgt, liest man: „Promise“ heißt auf Arabisch Wa’d. Mawa’d oder Date hat die gleiche arabische Wurzel wie Wa’d/Versprechen […]. Zwei verschiedene Wörter teilen sich die sprachliche Wurzel und einen Moment in der Zeit. Eine Art von Zukunft.

Marouf Hier war es für mich eine Methode, mit der nichtlinearen Verflechtung von Ereignissen zu arbeiten und eine Zeitlichkeit von Verlust und Wiederherstellung zuzulassen, die für das Werk spezifisch ist.

Linn Welche Bedeutung hat für dich der Umgang mit Texten anderer Autoren als Material, als etwas Wiederverwendbares, das aus dem Zusammenhang genommen und umgeschrieben werden kann und sich schließlich in etwas Neues (wenn auch nicht Utopisches) auflöst? Du hast zum Beispiel Bezüge zu Shoshana Zuboffs Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (2018) und zu Hannah Arendts Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958) in deinen Arbeiten hergestellt.

Marouf Das Schreiben ist ein wichtiger Teil meines künstlerischen Schaffens. Ich habe Zitate und Anekdoten aus Theorie, Queer Studies und Literatur als meditative, intime Gespräche verwendet und mich vom Schreiben in einer konventionell-akademischen argumentativen Tradition entfernt, um diese Themen zu personalisieren und sie für mich greifbarer zu machen. Diese Strategie hilft mir, meine persönlichen Erfahrungen und meine künstlerische Arbeit gleichermaßen zu artikulieren. Ich habe mit Prosa, Lyrik und Essayistik gearbeitet. Da diese Genres eine offene, fragmentierte Form haben, halte ich sie für am besten geeignet, um die fragmentarische Natur von Erinnerung, Trauer, Sehnsucht und so weiter zu artikulieren, was eine nicht lineare Artikulationsmethode sowie ästhetische Erfahrung ermöglicht.

Linn Das führt mich wieder zurück zum Titel deines Forschungsprojekts, All Roads are Open, der die Nichtlinearität jenseits des linearen Modells von einer Bewegung vom Ursprung zum Ziel und der normativen Vorstellungen von Zugehörigkeit betont – wie zum Beispiel die Vogelzugrouten, die auch in deinem Forschungsprojekt eine Rolle spielen. In welchem Stadium deiner Recherche befindest du dich gerade?

Marouf Die Straße bringt ein Gefühl der Offenheit mit sich. Wir verwenden Sätze wie „auf der Straße“ als Hinweis auf das Unterwegs-Sein, einen Zustand des ständigen Übergangs, etwas, das ich bei diesem Forschungsprojekt unbedingt thematisieren wollte. Vor allem angesichts der derzeitigen verheerenden, instabilen politischen Lage im Nahen Osten wurden einige meiner Reisen abgesagt, verschoben oder neu geplant. Dies hat gezeigt, mit welch großen Hindernissen man im Alltag konfrontiert und wie stark die Bewegungsfreiheit in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist, was auch ein ständiges Aushandeln des Privilegs bedeutet, dass man sich in der Region aufhalten oder sie verlassen darf. Nichtsdestotrotz ist mein Projekt schon weit gediehen, und ich plane für den gesamten Herbst einige Reisen in den Libanon und nach Ägypten. Derzeit befasse ich mich mit dem Vogelzug: Millionen von Vögeln ziehen zweimal im Jahr zwischen Europa, Asien und Afrika durch ein so genanntes Nadelöhr oder einen Korridor, der am Bosporus in der Türkei beginnt und in den nordägyptischen Küstenstädten am Roten Meer endet. Als ich in Jordanien war, habe ich die Vogelwarte und das Team in der Stadt Akaba gefilmt. In diesem Herbst, der Hauptzeit des Vogelzugs, werde ich auch die Vogelwarte im Libanon und in Ägypten besuchen und weitere Straßen in Beirut und Kairo filmen. Ich glaube, es gibt zwei Gründe, warum ich mich für die Vogelwanderung interessiere. Zum einen liegt es einfach daran, dass die Kartierung aus der Vogelperspektive erfolgt. Zum anderen interessiert mich dieser Weg, den die Vögel zweimal jährlich zurücklegen und den sie durch ihr genetisches Gedächtnis unter Anwendung ihrer eigenen Navigationstechniken steuern, die uns weitgehend unbekannt sind.

Abonnieren Sie den maecenas, das Magazin der Hessischen Kulturstiftung.