Michael Kalmbach

Geboren 1962

Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung 1999/2000:
Prag, Budapest, Bukarest

1983–1989 Studium an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Städelschule,
Frankfurt am Main
Lebt und arbeitet in Berlin
Künstlerische Medien: Skulptur, Zeichnung, Malerei, Installation

mikalmbach@gmx.de

Die neueren Zeichnungen, teils großformatigen Aquarelle und auch plastischen Arbeiten von Michael Kalmbach kreisen um einen Themenbereich, der nicht zuletzt in der Kunstgeschichte Bildtraditionen hat: Bilder von (auto)erotischen Phantasien und Praktiken, Bilder, die manchmal vergnüglich, manchmal verstörend direkt aus kindlichen Erfahrungswelten zurückzukommen scheinen.

Wie bei der Schenkelgeburt von Bacchus –
Michael Kalmbach über das Entstehen seiner Bilder und Skulpturen

Ein Interview mit dem Kunsthistoriker Dr. Thomas Röske

Röske: Wie beginnst Du Deine Bilder für gewöhnlich?

Kalmbach: Beim Aquarellieren gibt es zunächst den Materialprozess, eine Landschaft aus Flecken und Pfützen entsteht auf dem Papier. Das Papier wellt sich stark, das Licht spiegelt sich in den Flüssigkeiten. Es ist schwer vorher zu sehen, was sich nach dem Trocknen zeigen wird. Das Material ist vorherrschend. Jedenfalls entsteht dann allein durch den Trockenprozess ein irgendwie gearteter illusionistischer Bildraum.

Röske: Und wie kommt es dann zu den Figuren? Was ist der nächste Schritt in Deiner künstlerischen Schöpfungsgeschichte? 

Kalmbach: In diesem Bildraum tauchen Gegenstände auf, die sich mehr oder weniger konkretisieren. Aus Farbpfützen entstehen Gesichter und Figuren, die sofort miteinander und mit der Umgebung in Beziehung treten.

Röske: Diesen Moment des Umschlags vom Abstrakten zum Figürlichen – zögerst Du den hinaus, oder suchst Du ihn? 

Kalmbach: Vor allem brauche ich ihn. Ich brauche diese Akzente im Bild, ähnlich wie Magneten. Sobald ein Gesicht guckt, ist mein Betrachterblick angezogen. Dann kommt es zu einer allgemeinen Veränderung – als würde das Bild umkippen. Jeder Farbfleck verwandelt sich. Die Spannung zwischen undefinierbarem Fleck, der eigentlich nicht mehr ist als ein Fleck, und andererseits Figürlichkeit, wie auch die Entwicklung vom einen zum anderen, mag ich.

Röske: Der Prozess wird Figur? 

Kalmbach: Ja, das ist eine interessante Idee.

Röske: Die Gesichter, die Dich plötzlich aus Deinen Bildern anblicken, führen sie zwangsläufig zum Erzählerischen? 

Kalmbach: Motive entstehen fast von allein; wenn sie mich interessieren, greife ich sie auf und entwickle sie weiter. Vielleicht wie ein Musiker, der improvisiert, der auf ein Motiv reagiert, variiert, aufnimmt, wiederholt. Sie entstehen entweder aus dem Arbeitsprozess, oder es steht eine Figur so, dass sie eine andere provoziert. Die Figuren und Formen sind eigentlich wie Darsteller, mit denen ich dann umgehe im weiteren Verlauf. Meist entwickelt sich unbewusst eine Erzählung daraus, oft entdecke ich erst später den Inhalt.

Röske: Die Inhalte Deiner Bilder entwickeln sich also vor allem unbewusst?

Kalmbach: Es sind innere Bilder, die im Malprozess auftauchen. Aber im Unterschied zum Träumen findet beim Malen immer ein Abgleichen statt von Bewusstem und Unbewusstem.

Röske: Kinder spielen eine große Rolle in Deinen Werken. Was fasziniert Dich an Kindern?

Kalmbach: Kinder haben ein Omnipotential, eine riesige Entwicklungsmöglichkeit. Kleine Kinder finde ich faszinierend. Sie sind noch eins mit sich und der Welt. Sie haben die Selbstverständlichkeit des Daseins um sich, wie ein Tier oder ein Baum. Kinder sind unverstellt, frei von Kalkül oder Konditionierung. Natürlich interessiert mich an Kindern auch meine eigene Kindheit. Ich erinnere mich an die Selbstverständlichkeit des Erlebten. Kinder wachsen zunächst in ihre Umgebung hinein, ohne sie zu hinterfragen. Sie haben keinen Begriff von Moral und sind offen. Sie spielen. Das Spielerische ist wichtig für mich. Die Kunst bietet einen unendlich großen Raum zum Spielen.

Röske: Herrscht aus Interesse an Offenheit Chaos und Anarchie in Deinen Bildern? 

Kalmbach: Das Chaotische steckt als Prinzip darin, aber eigentlich versuche ich, in den Bildern für mich eine Ordnung zu finden, eine Integration mit ganz klassischen Kompositionsprinzipien. Es geht um Maße, Gewichtungen, Balance. Dieses Vorgehen hat für mich etwas Beruhigendes im Chaos meines Lebens.

Röske: Welchen Ort haben die Bilder in Deinem Gedächtnis? Bilden sie darin einen Zusammenhang? 

Kalmbach: Alles hängt zusammen. Im Bildraum ergeben die Bilder Geschichten, die so, aber auch ganz anders sein könnten. Ich identifiziere mich mit allen Figuren, als wären es Teile von mir.

Röske: Du hast ja mit „Der große und der kleine Paul“ (2003) einen Zusammenhang einzelner Bilder hergestellt. Bildet dieses Buch ab, was in Deinem Kopf mit den Bildern geschieht? 

Kalmbach: Vielleicht, aber dahinter steht auch ein analytisches Interesse. Ich möchte rausfinden, was entstanden ist. Wenn ich die Bilder, die unabhängig voneinander entstehen, verknüpfe, möchte ich auch herausfinden, was sie verbindet. Es gab zum Beispiel mal ein Motiv, bei dem kleine Figuren aus einer größeren herauskommen, und ich habe nicht so richtig kapiert, was das bedeutet. Es gab die Möglichkeit, dass die kleinen Wesen in dem Körper wohnen, und dann tauchen Fragen auf: Warum leben sie da? Welches Verhältnis haben sie zum Großen? Sind es Freunde, Parasiten? Oder sind es Repräsentanten von Körperteilen? – Wie Beuys gesagt hat: „Ich denke mit dem Knie“, oder so. Darüber bin ich zu diesen Komposit-Figuren gekommen, wo der ganze Körper ein Monadensystem ist. In der Bilderbuchgeschichte wurde es dann zum Geburtsmotiv: Die Kleinen entstehen aus dem Großen, werden geboren, wie bei der Schenkelgeburt von Bacchus. Röske: Entspricht das deinem eigenen Körpergefühl? Kalmbach: Dem inneren Gefühl, multiple Persönlichkeiten zu haben, auf jeden Fall. Es gibt verschiedene Persönlichkeitsanteile, zögerliche, entschiedene, weinerliche, muntere, melancholische. Außerdem ist in uns jedes durchlebte Alter enthalten. Meine Bilder enthalten auch meine durchlebten Altersstufen.

Röske: Welche idealen Formen der Präsentation gibt es für Dich neben dem Buch? 

Kalmbach: Ich habe eine Neigung zum Gesamtkunstwerk. Ich habe eigentlich immer von einem Raum geträumt, in dem ich Skulpturen und Bilder zusammenbringe, in einer Art Kapelle, oder wie bei Kreuzwegstationen, die in einer Kapelle gipfeln. Ich habe das 1995 mit Jürgen Kisch probiert, im Frankfurter Ausstellungsraum; da habe ich die Stuckarbeit übernommen und Jürgen die Wandmalerei.

Röske: Du hast kürzlich die Drucktechnik der Radierung für Dich entdeckt. Was reizt Dich daran? 

Kalmbach: Seit zwei, drei Jahren experimentiere ich mit der Radierung. Einmal mag ich daran eine Verlangsamung des Zeichen- und Malprozesses, des Strichs. Das ist so bei der Ätzradierung, weil da verschiedene Stufen der Fertigung durchlaufen werden, aber auch bei der Kaltnadelradierung, da der Strich hier quasi behindert wird durch die Zähigkeit des Materials. Zum anderen gibt es durch das Drucken eine Distanz zu dem Gemachten. Das Bild entsteht dann im Moment des Druckvorgangs auf einmal. Man kann aber dieses Bild noch beeinflussen, kann daran Veränderungen vornehmen, die auch ins Malerische gehen.

Röske: Du nimmst nicht nur die klassischen Metallplatten zum Radieren … 

Kalmbach: Ich benutze Kupfer-Zink, alte Offsetdruckplatten, Acrylfolie. Letztere eignet sich nur für Kaltnadel. Ich arbeite ziemlich ins Blinde hinein, die entstehende Zeichnung ist schwer zu erkennen. Der Zufall spielt eine Rolle, man arbeitet mit einer Ahnung, der erste Druck ist immer eine große Überraschung. Die Offenheit, die das Aquarell ohnehin schon hat durch die große Wirkung des Zufalls, kann ich mir in der Radierung auf andere Art verschaffen. Da habe ich keine Flüssigkeit, die von allein fließt, keine Pigmente, die sich anhäufen, angeschwemmt werden wie beim Aquarellieren. Dafür verwende ich eine Art offenen, unterbrochenen Strich. Er lädt dazu ein, ständig in eine andere Richtung zu kippen. Es entwickelt sich eine unvorhersehbare Bildwelt.

Röske: Hat dieser offene Strich wiederum Rückwirkung auf Deine Aquarelle? 

Kalmbach: Ja, meine Motive haben sich etwas verändert, und das zeigt sich auch in den Aquarellen. Die Figuren sind mehr ineinander verschränkt, oft mehr in der Fläche verortet, weniger räumlich. Durch den Zeichenprozess entstehen die „Wucherungen“, wachsen die Gebilde aus sich selbst weiter. Es entstehen eine Art Assoziationsteppiche.

Röske: Welches Verhältnis haben Aquarellmalerei und Skulptur bei Dir? Die Motive sind ja oft die gleichen. Regt eher die Malerei die Skulptur an oder umgekehrt?

Kalmbach: Das ist immer wechselseitig. Manchmal sind die Gips- oder Pappmaché-Skulpturen wie Modelle für Bilder. Aber Zeichnungen, Aquarelle können auch Anregung für Skulpturen sein, weniger Entwurfsskizzen. Was dazu kommt, ist die Mechanik. Es ist eine ganz andere Welt als die Illusion des Bildraums, wenn die Dinge sich materialisiert haben, bewegt werden können im Raum.

Röske: Hast Du bei Skulpturen eine stärkere Formidee als bei Malereien?

Kalmbach: Nicht unbedingt. Vor allem mache ich oft die Erfahrung, dass ich das erste Konzept umwerfen muss – dass die Idee, mit der ich beginne, nicht umsetzbar ist und dass dann eine radikale Änderung nötig ist. So wie ich arbeite, kann die Entstehung einer Plastik ähnlich offen sein, wie beim Aquarell, unter Umständen freier, da ich beim Aquarell früher festgelegt bin. Die Skulptur kann ich jederzeit auf den Kopf stellen, demontieren, umbauen.

Röske: Warum hat sich die Skulptur in letzter Zeit bei Dir wieder stärker entwickelt?

Kalmbach: Ich kann damit spielen, und durch die Masken, die ich baue, kann ich selber Teil dieser Welt sein. Auch kann ich Filme mit diesen Puppen-Protagonisten machen. Es ist eine Art 3D-Version meiner Bilder. Ich arbeite in einem quasi kubischen Kasten, in dem die Puppen um mich herum hängen, da bin ich eigentlich Teil eines sich ständig verändernden Bildes.

Röske: Warum sind es alles graue Figuren? 

Kalmbach: Alles ist aus Zeitungspapier gemacht. Die Vermischung ergibt aus der Ferne betrachtet einen Grauton. Wenn man näher hinschaut, kann man Farben und Buchstaben entdecken. Mir gefällt, dass sie voller Texte und Bilder stecken. Ich habe auch mit Toilettenpapier gearbeitet. Aber Zeitungspapier ist interessanter beim Arbeiten, da kann man mal Texte lesen oder Bilder entdecken. Was mich besonders interessiert, lege ich zurück und verarbeite es zu Kollagen.

Röske: Liegt Dir etwas an der künstlichen Wirkung des Grau?

Kalmbach: Meine früheren Gips-Figuren hatten auch diesen Charakter, dass sie nicht zu verwechseln waren mit der Umgebung, sie fallen heraus. Das hat jedenfalls eine Faszination für mich. Die Figuren heben sich vom Chaos ab, in dem ich hier lebe.

Röske: Sie setzen etwas der Unordnung des Lebens entgegen?

Kalmbach: Wenn ich ein ordentlicher Mensch wäre und in leeren Räumen leben würde, würde ich sie vielleicht bemalen.

Röske: Sollen die Figuren möglicherweise auf einer anderen Ebene als der Realität spielen? 

Kalmbach: Die Figuren spielen auf einer anderen Ebene. Sie bewegen sich im Raum der Kunst und nicht im Raum der Realität. Das ist ein großer Vorteil, sie haben alle Freiheiten. Beneidenswert.

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