editorial

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

Sie haben den Song Memories Are Made of This aus den Fünfzigern vielleicht schon einmal gehört? Bekannte Stimmen des US-amerikanischen Pop preisen darin die zuckersüßen Zutaten, aus denen Erinnerungen gemacht sind – nach den geschmacklichen und moralischen Konventionen jener Zeit versteht sich. Kaum mehr erträgliche Süße mit dem Schmelz von Dean Martin. Heute werden dem ge­texteten Erinnerungsmix vielfältige Geschmacksnuancen gestattet. Doch eines spricht zeitlos aus dem Song – das Bedürfnis, den einmal erlebten Genuss des Glücks zu konservieren: „Stir carefully through the days / See how the flavor stays / These are the dreams you will savor.“  Erlebnisse sind als Erinnerungen und Teil unserer Biografie dauerhaft im Gedächtnis abgelegt. Es braucht erstaunlich wenig, um sie hervorzuholen, einen bestimmten Geruch aus der Kindheit oder einen vertrauten Geschmack aus der Jugend – wer hat die Rückkehr zur eigenen Frühzeit im Durchgang durch das erwachsene Ich nicht schon einmal am eigenen neuronalen System erfahren? Was dieses Erlebnis bewirkt, nennt die Psychologie den Proust-Effekt. Der vermag es, durch unvermittelte Erinnerungsketten aus Bildern und anderen kostbaren Fragmenten zu beflügeln – kaum jemanden allerdings so sehr wie den Namensgeber Marcel Proust, der daraus ein Monumentalwerk der Erinnerungen schuf: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Besser greifbar ist das Erlebnis daher als „pétite madeleine de Proust“, besser bekömmlich als französischer Zwieback in Tee, zuckerarm, das die Madeleine in der Biografie des Autors gewesen ist. Dem Ich-Erzähler wird dieses buttrig-süße Sandgebäck an einem kalten Wintertag zum Souvenir höheren Ursprungs, das ihn im Gefühl größten Glücks ins Universum der Kindheit zurückwirft. Die Erinnerung an das Vergangene ist das Motiv dieser Winterausgabe. Es führt in Gedankenwelten früherer Epochen, wo Kindheit eine Ursprünglichkeit darstellt, die als golden verklärte Vorzeit, natürliche Poesie oder als paradiesischer Ort metaphorisch erinnert wird. Die Suche nach der „frühen Vergangenheit“ ist ein Aspekt, der in den Ausstellungsthemen, die wir Ihnen vorstellen möchten, zu finden ist. Er wird modern weitergedacht, aber auch konträr zum erinnerten Paradies erfahren.  Was wir bei Marcel Proust und Dean Martin lernen: Die Zeit, die uns verloren erscheint, ist endgültig vergangen, wenn sie nicht in der Erinnerung konserviert und wiedergefunden wird. Kaum eine andere Zeit aktiviert unser aller Madeleine-Moment so sehr wie die Herbst- und Winter­monate. Sich in die „verlorene Zeit“ zurückfallen lassen, ein süßes Déjà-vu – warum nicht?

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre,  eine frohe Weihnachtszeit und einen guten Übergang  in das neue Jahr!

Ihre
Eva Claudia Scholtz
Geschäftsführerin der  Hessischen Kulturstiftung

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