Hessen Kassel Heritage, Neue Galerie
Marie-Louise von Rogister: Über dem Rot, 1958, Öl auf Hartfaserplatte, 50 × 61 cm ©



Freiheitlich

Der Wille zum radikal Neuen – ein rebellischer Impetus, der zur Gestaltung drängt –, die intuitive künstlerische Geste, die souverän den Griff nach Originalität vollzieht – innovativer Schaffensprozess, bei dem der Funke zündet, die Farbe spritzt: Solche Inszenierungsformen wurden exklusiv Männern auf den Leib geschrieben. Das entfesselte Genie, seit dem Sturm und Drang als Männlichkeitsideal kultiviert, ist noch unter den Künstlern der Nachkriegsabstraktion lebendig. Im frenetischen Umgang mit Form, Farbe und Material performt es den Bruch mit Kunsttraditionen – nach gewohnter Rollenlogik – auf der fest gegründeten Ungleichheit der Geschlechter. Der männliche Geniekult hatte nicht nur das Vorurteil zementiert, dass Weiblichsein und Schöpferkraft unvereinbar sind, sondern auch um 1900 das Genie als „nicht weiblich“ und antifeministische Norm entworfen. Nazizeit und Nachkrieg drängten Frau in die der Fürsorgemoral verpflichtete Rolle zurück – die geniale Unterstützerin. Künstlerinnen, die das Regelkorsett nicht hinderte, fanden nach 1945 mit schöpferischer Verve zu eigener informeller Haltung. Im gestischen Entwerfen freier Formen löste sich Frauenhand von naturabbildenden Sujets und folgte der Dynamik innerer Kreativität für einen zeitgemäßen, freiheitlichen Ausdruck. Jahrzehnte blieben die Neuerinnen der Abstraktion im Schatten ihrer Kollegen oder Ehepartner, wurden sie mehr mit klischeehaften Zuschreibungen bedacht als mit anerkennender Sichtbarkeit.

Starken weiblichen Positionen des Informel gilt eine Ausstellung in Kassel: InformELLE würdigt Werke von Frauen, die kollektiv vernetzt oder auch in Partnerschaften arbeiteten, deren Kreativitätskonzepte mitunter das männliche Künstlergenie ablösten. Reinszeniert InformELLE die Trennung der Geschlechter? Nein, der Verzicht auf Kunst von Männern ist der systematischen Zurücksetzung von Frauen in der Kunst- und Geniegeschichte geschuldet und weist sogleich auf das unverzichtbare Ziel, Kunst vom Kriterium des Geschlechts zu lösen.

  • InformELLE. Künstlerinnen der 1950er/60er Jahre
  • Hessen Kassel Heritage · Neue Galerie
  • 11. Oktober 2024 – 26. Januar 2025
  • Schöne Aussicht 1, Kassel
  • Telefon +49 561 31680-400
  • heritage-kassel.de