Imperfekt
Hat die eigene Schale Unregelmäßigkeiten oder Narben, pflegt man diese zu verstecken, liegt die eigene Schale in Scherben, betrachtet man sie als ausgedient. Bei Letzterer ist das Kitten der Teile weder Zeit noch Mühe wert. Und auf Erstere werden die Mittel angewandt, die die Einprägungen, welche man vom Leben empfangen hat, zu glätten versprechen. Ob die eigene Hülle oder das zerbrechliche Gefäß – Dellen, Risse, Scherbenhaufen sollen das Auge und das Empfinden bitte nicht stören, je unsichtbarer, desto besser, so zumindest eine verbreitete Haltung bei uns. Gleichwohl zeigt sich der Trend, bemakelte Dinge aufzuwerten und diesen mit ein paar Kunstgriffen einen neuen Lebenszyklus zu verschaffen. Ein recht junges Phänomen in der westlichen Welt, in der frei von jedwedem Fehler zu sein von jeher ein philosophisches wie auch ästhetisches und moralisches Ideal war.
In Japan ist eine andere kulturelle Haltung verwurzelt, nämlich die, sich der Empfänglichkeit für das zu überlassen, was sich an vermeintlich Fehlerhaftem oder Zufälligem zeigt, was sich natürlicherweise auf einer Oberfläche ergibt. Hinzu kommt eine positive Grundgestimmtheit: statt Pathos der Perfektion heitere Gelassenheit im Angesicht der eigenen wie der stofflichen Vergänglichkeit, Freude an melancholischer Stille, bizarrer und herber Schönheit genauso wie an einer Formgebung, die man, verglichen mit einer verfeinerten künstlerischen Gestaltung, gemeinhin als nachlässig, ja hässlich ansehen würde. Dieses Schönheitsempfinden der japanischen Kultur und Philosophie äußert sich in rauen, verbeulten Keramikformen, manchmal mit dick glasierten, narbig wirkenden Oberflächen, andererseits in behutsamen Goldlackreparaturen an gekitteten Teeschalen, die deren Bruchlinien ästhetisch überhöhen. Eine kunsthandwerklich erzeugte Patina von widersprüchlichem Reiz, die in der Teekultur eine besondere Wertschätzung für das materielle Altern, aber auch für das Lebendige widerspiegelt.
Mit derlei Exponaten wendet sich die Ausstellung Welt im Fluss im MAK Frankfurt dem imperfekten Aspekt in der japanischen Kunst zu. Welt im Fluss versammelt solche als unvollkommen, unbeständig und unvollständig charakterisierten Objekte und stellt in ihrer Gesamtheit eine Ästhetik vor, die eine offen-fluide Gegenwärtigkeit erfahrbar macht. Ihr ist der stete Verlauf des Vergänglichen eingeschrieben. Den daran anknüpfenden Themenkreis bildet das als unstete Bewegung wahrgenommene Flüchtige. Es gehört ebenfalls zu den „fließenden“ Grundfiguren des Ästhetischen in Japan und ist eine weitere Metapher für den ständigen Wandel, der sich überall in der Natur wie auch im Leben vollzieht. Der umfassende Überblick über Werke, an denen die materielle Welt in ihrer Flüchtigkeit oder Vergänglichkeit in Erscheinung tritt, erfasst neben angewandter Kunst Malerei, Zeichnung, Schriftkunstarbeiten, Holzschnittkunst, Skulpturales, darüber hinaus Bau- und Raumformen. Die Schau schlägt den Bogen über Jahrhunderte japanischer Teekultur zu modernen Positionen und der Gegenwartskunst, in der Traditionelles sich in raffiniert gewandelten Ausdrucksformen zeigt. „Bilder der fließenden Welt“ wechseln mit solchen, die Wasser, Wind oder auch die Pracht des Vergehens behandeln. Mal reflektieren Werke den kritischen Blick auf herrschende Verhältnisse, mal parodieren Werke aus jüngerer Zeit feste Bildkonventionen oder brechen diese ironisch.
Hier, wo die schwarzhumorige Klage über den überschrittenen Zenit gern einmal angestimmt wird, wenn an der eigenen Schale der sprichwörtliche Lack ab ist, eröffnet Welt im Fluss den Gegenkosmos japanischer Ästhetik und Lebenskultur, in dem Lackarbeiten und Keramiken im Glanz der Oberflächen den Verfall feiern, in dem unterschiedliche Kunstäußerungen den sorglosen Ruf „Genieße den Augenblick!“ zu enthalten scheinen – schöne Gelassenheit im Wandel und Vergehen.
- Die Welt im Fluss
- Über Bewegtes und Vergängliches in der Japanischen Kunst
- Museum Angewandte Kunst
- bis 27. April 2025
- Schaumainkai 17, Frankfurt am Main
- Telefon +49 69 21234037
- museumangewandtekunst.de