Editorial

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

zeitlos sein – wie wäre es wohl, nicht von einem Takt bestimmt zu werden, über Terminschienen und Wiederholungsmühlen hinwegzugehen? Versetzt zur disziplinierenden Zeitordnung der Alltagsexistenz – eine attraktive Vorstellung, nicht synchronisiert zu sein, die Zeit dem persönlichen Rhythmus anzupassen. Das Bedürfnis derer, die der abstrakten Ordnung und dem verbindlichen Takt den Vorzug geben, trifft diese Vorstellung vermutlich nicht. Einerlei, welchen Persönlichkeitsstil man pflegt, mehr, als dann und wann mal uhrzeitlos sein, ist praktisch nicht drin – doch immerhin. Auch jene Zeitlosen, die an der No Time gearbeitet haben sollen, stehen am Ende des Tages mit beiden Füßen auf dem Boden der „bürgerlichen Zeit“. Doch es gibt sie, die wahren Zeitlosen, die sich nicht an die geltende Ordnung von Zeitskalen halten. Diese verpflanzen den Frühling in den Herbst und besorgen das reguläre Herbstgeschäft im Frühjahr; sprich, sie blühen und bilden Samen außerhalb der Zeit und sind, mit Friedrich Rückerts Worten, „hierin der Blumen Widerspiel“. Was unter dem Namen Herbstzeitlose als blassviolette Blüte ohne Blatt, quasi nackt, die zeitliche Verschiedenheit so prächtig bis November darbietet, trägt – was allgemein bekannt sein dürfte – ein tödliches Gift. Die wenigsten aber dürften wissen, dass die krokusähnliche Blume ein Kapitel der historischen Taschenlosigkeit der Frau mitverantwortet. Als „Ligne Corolle“ oder „Colchique“ hat sie den New Look der Nachkriegsjahrzehnte, bei dem die Röcke an umgedrehte Blütenkelche erinnern, mitgeformt. Von Eingriffstaschen – dem Privileg des Mannes – war der reaktionäre Zuschnitt des Blütenkelchs weit entfernt, die Handtasche ergänzte die durch Miedergürtel eingeschnürte Taillenkontur. Apropos: Tasche und Trivialnamen für die Herbstzeitlose zielen sprachgeschichtlich unter die weibliche Gürtellinie. Sie teilen sich gleiche historische Namen mit Genitalbezug, die – hier nicht zur Wieder­holung geeignet – Weiblichkeit verächtlich machten, wo man(n) sie als bedrohlich ansah: als zügellos, einverleibend, todbringend. Vom Blumenblütensujet oder -klischee sagten sich im Nachkrieg die „informellen“ Künstlerinnen los, die mit neuen Praktiken der Abstraktion in ein männerdominiertes, körperbetontes Metier eintraten. Im Widerspiel von Torselett und Tasche entwickelten Aktion und befreite Geste, ob kraftvoll oder feingliederig, eigenständige weibliche Positionen – vom männlich ge­triebenen Kunstgeschehen jedoch weitgehend verdeckt. Auf historisch gewachsene Ungleichheiten blicken wir in dieser Ausgabe. Mit einigen Anregungen zum Herbst laden wir Sie dazu ein, manche Tage aus dem Zeitkorsett zu lösen und diese in genialer Herbstzeitlosigkeit zu verbringen.

Ich wünsche Ihnen eine kurzweilige Lektüre!

Eva Claudia Scholtz
Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung