editorial

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

die Schwalbe ist ein ambivalenter Sommerbote. Das äsopische Sprichwort warnt uns davor, einzelnen Schwalben zu trauen … Und trotzdem deuten wir gern – dem Auguren gleich – einen einsamen Schwalbenschwanz als Boten des Sommers. Voller Vorfreude lesen wir den schönen, schrillen Schwung am Himmel und wissen: Der Sommer muss kommen. Und der Sommer kommt – auch in diesem Jahr.

Und auch vor 100 Jahren, im Jahr 1921, sollte der Sommer kommen. Allerdings waren Mai und Juni, die Monate, in denen Per­sönlichkeiten mit so unterschiedlichen Lebensläufen wie Sophie Scholl, Joseph Beuys und der kürzlich verstorbene Prinz Philipp geboren wurden, vom Wetter her eher durchwachsen. Während das englische Königshaus fast 100 Jahre später den Tod von Prinz Philipp betrauert, gedenkt Deutschland der Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus Sophie Scholl und beleuchtet mit zahlreichen Sonderausstellungen und Veranstaltungen das Werk des Krefelder Sozialutopisten Joseph Beuys.

Beuys ist in jedem Fall ein inspirierender Bezugspunkt für seine frühere Schülerin und Mitarbeiterin Shelley Sacks, die anhand seines Konzepts der Sozialen Plastik eine eigenständige künstlerische Praxis entwickelt hat: Jeder Mensch soll sein Handlungspotenzial mithilfe der eigenen Vorstellungskraft entwickeln.

Im Jahr 1921 ist das deutsche Kaiserreich seit fast drei Jahren Geschichte. Doch seit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 hat das Wilhelminische Zeitalter, dessen Namenspatron Kaiser Wilhelm II. eng mit dem britischen Königshaus verwandt war, zahlreiche verschiedene Deutungen durchlaufen, die eine wissenschaftliche Tagung und die dazugehörige Publikation kritisch erörtern.

1921 experimentiert Marcel Breuer am Bauhaus mit seinen ersten avantgardistischen Möbelentwürfen aus Holz. Der Architekt, der in Deutschland vor allem als Designer von Stahlrohrmöbeln bekannt ist, hat in Wiesbaden sein einziges Wohnhaus in Deutschland gebaut, und das gleich doppelt. Eine neue Publikation widmet sich hauptsächlich dem Nachkriegsbau Haus Harnischmacher II.

Wie aus einer anderen Welt wirken im Zeitalter der Fotografie, des Films und der neuen Medien die Objekte in der Ausstellung Klein. Intim. Kostbar. Porträtminiaturen europäischer Herrscherhäuser im Museum Schloss Fasanerie bei Fulda. Dort sehen wir in den faszinierenden kleinen Porträts bildhafte Zeichen, die als Versicherungen der wechselseiteigen Liebe oder politischer Loyalität gehandhabt wurden. Die Kulturgeschichte und Schönheit dieser kaum mehr bekannten Form der Porträtkunst ist, wenn die gegebenen Umstände es zulassen, einen Ausstellungsbesuch wert.

Heute, im Jahr 2021, berichtet unsere Stipendiatin Giulietta Ockenfuß im Interview mit der Kuratorin und Kritikerin Ania
Czerlitzki­ von ihrer gemeinsamen Arbeit mit der Filmemacherin Catherina Cramer in Mexiko.

Anregende Lektüre und einen wunderbaren Sommer
wünscht Ihnen

Eva Claudia Scholtz
Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung