dessau — kassel
Fast wirkt es, als schwebe Fritz Winters (1905 – 1976) für die erste documenta 1955 geschaffene, monumentale Komposition vor Blau und Gelb im Großen Malereisaal des Fridericianums. Wenige Schritte dahinter lösen deckenhohe weiße Plastikvorhänge die von Fenstern durchbrochene Stirnwand des Saals in eine milchweiße Lichtfläche auf. Betrachtet man eine der menschenleeren Schwarz-Weiß-Fotografien Günther Beckers, so scheint es, als werde von dem Gemälde ausgehend der Raum von schwarzen Bändern aufgespannt. Richtet ein Besucher den Blick nach oben, so verstärkt sich dieser Effekt nochmals. In den provisorisch wiederhergestellten Ruinen des Fridericianums erstreckt sich der Große Malereisaal über zwei Stockwerke, von denen lediglich die untere Hälfte durch die vom Gemälde getragenen Linien als Bildraum markiert wird. Darüber herrscht eine große, weiße Leere.
Das Licht, das hinter den schwarzen Verschalungen das Weiß der getünchten Wände erstrahlen lässt, betont den Eindruck eines gespannten, schwebenden Zustands, dessen Fluchtpunkt Fritz Winters Gemälde bildet. Einen Ankerpunkt findet der so geschaffene Bilderraum vor der gegenüberliegenden Wand: Hier hängt vor einer schwarzen, frei aufgestellten Fläche Pablo Picassos Mädchen vor dem Spiegel aus dem Jahr 1932. An den seitlichen Wänden sieht man neben einem weiteren Gemälde Fritz Winters und Bildern anderer zeitgenössischer Abstrakter wie Pierre Soulages, Victor Vasarely und Hans Hartung Werke prominenter Maler der Moderne wie Georges Braque, Juan Gris, Henri Matisse oder Jean Arp. Bezeichnenderweise, wie Dr. Anna Rühl im Katalog zur Ausstellung Fritz Winter. documenta-Künstler der ersten Stunde schreibt, führe der Katalog „Winters Komposition vor Blau und Gelb nicht mit den anderen Gemälden des Künstlers im Katalogteil, sondern nennt es weiter vorne unter der Rubrik ‚Ausstellung‘ in einem Atemzug mit Bodes viel gerühmter Ausstellungsgestaltung als ‚Wandbild im Großen Saal‘“.
Arnold Bode, Designer und Lehrer an der Kasseler Werkakademie, hatte in den 1950er Jahren die Idee, der Nachkriegsgesellschaft mit einer internationalen Kunstausstellung ein heilsames Bild moderner, abstrakter und bis kurz zuvor vom nationalsozialistischen Regime noch als „entartet“ gebrandmarkter Kunst zu vermitteln. Dieser Ansatz, die Auswahl der Künstler durch den langjährigen künstlerischen Leiter der documenta, Werner Haftmann, aber auch ihre Darbietung durch Bodes Ausstellungsdesign, ist in jüngster Zeit – zuletzt auf einem Symposium im Deutschen Historischen Museum – kritisch beleuchtet worden.
Im Kontext von Arnold Bodes Inszenierung zwischen dem Bruch mit der nationalsozialistischen Kunstdoktrin und dem paradoxen Anschluss an eine ungebrochene Kontinuität der Vorkriegsmoderne ist Fritz Winters rund 24 Quadratmeter großes Gemälde als konzeptuelle Stütze kaum zu unterschätzen: als Bezugspunkt sowohl von moderner als auch von gegenwärtiger Kunst. Die Eröffnung und wichtige Pressetermine fanden vor dem abstrakten Gemälde eines Malers statt, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg am Bauhaus unter anderem bei Klee und Kandinsky gelernt hatte und während des Kriegs trotz Arbeitsverbot als Maler „entarteter Kunst“ in der sogenannten inneren Emigration heimlich weiter an seiner abstrakten Formensprache arbeitete.
Vielleicht darf man Bodes Gegenüberstellung von Picassos Mädchen vor dem Spiegel und Winters abstrakter Komposition als Hinführung verstehen, sich als Betrachter ebenfalls in der ausgestellten Kunst zu spiegeln, sich zu identifizieren und letztlich in die abstrakten Bildräume zu integrieren – was Bode de facto tat, als er die Bühne zur Eröffnung der documenta erklomm, die direkt vor Winters Gemälde aufgestellt war.
Die Ausstellung in der Neuen Galerie in Kassel, Fritz Winter.documenta-Künstler der ersten Stunde, ist eine groß angelegte Retrospektive zu Winters Werk mit einem Fokus auf dem Wirken des Malers in Kassel: als Lehrer an der Werkakademie wie als Teilnehmer und Gestalter der ersten drei documentas. Als Leihgabe aus dem Fritz-Winter-Haus in Ahlen ist neben anderen bedeutenden Werken Winters Komposition in Blau und Gelb in seiner vereinnahmenden Größe zu sehen und – ein Aspekt, den die zumeist schwarz-weißen documenta-Fotografien kaum wiederzugeben vermögen – in seiner ganzen Farbigkeit.
- Fritz Winter. documenta-Künstler der ersten Stunde
- bis 21. Februar 2021
- Neue Galerie
- Schöne Aussicht 1, 34117 Kassel
- Telefon +49 561 31680-400
- www.museum-kassel.de