© Sonja Yakovleva · Foto: Ludger Paffrath
Sonja Yakovleva: Kinky Boys & Bad Girls I., 2022 ©
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Aphrodite’s Beach, Kunstpalais, Erlangen, Pattern Recognition. Wiedersehen mit der Städtischen Sammlung Erlangen, 2022, Foto Ludger Paffrath ©
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The Bathtub, 2021, Foto: Roman März ©
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Hinter den Kulissen, Klingspormuseum, Offenbach am Main, Cut - Schnitte, die den Raum bedeuten, 2022, Foto: Simon Malz ©



stipendiatin sonja yakovleva

Auf Sonja Yakovlevas Papierschnitten haben Frauen das Regime übernommen und unterwerfen das patriarchale System. Ohne Scham benutzen sie Männer als Objekte zur Befriedigung ihrer Lust. Doch es geht um mehr als die hedonistische Umkehrung der Verhältnisse. Das Werk der 1989 geborenen Frankfurter Künstlerin ist von sex-positivem Feminismus geprägt. In ihm spiegeln sich ebenso Pornografie und Kunstgeschichte, wie volkstümliche Motive, Märchen und Mythen wider – mit denen vom Biedermeier und der Kolonialzeit bis hin zum Nationalsozialismus und Stalinismus misogyne, rassistische und homophobe Ideologien ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben wurden. Gerade weil er als häuslich und weiblich galt, bot sich der Scherenschnitt für Yakovleva an. Sie nutzt diese Technik in ihren Papierschnitten, um das Gegenteil zu schaffen – Grauzonen, in denen persönliche und kollektive Geschichten von Frauen, Machtverhältnisse, Repräsentation, Sexualität und Gewalt neu verhandelt werden. Immer wieder thematisiert sie dabei auch ihren eigenen migrantischen Hintergrund, die Prägung durch unterschiedliche Kulturen und politische Systeme. In Potsdam als Tochter von russisch-jüdischen Armeeangehörigen geboren, wuchs sie in Sankt Petersburg auf. Mit zehn Jahren kehrte sie nach Deutschland zurück und zog mit ihrer Familie nach Frankfurt, wo sie später an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studierte und seitdem zahlreiche internationale Einzel- und Gruppenausstellungen hatte. Oliver Koerner von Gustorf ist Kolumnist bei Monopol, daneben schreibt er auch für die taz und den Tagesspiegel.

Oliver Koerner von Gustorf Sonja, dein Stipendium der Hessischen Kulturstiftung geht bald zu Ende. Wie hast du die Zeit in Istanbul erlebt? 

Sonja Yakovleva Ich bin traurig, weil ich erst jetzt anfange Ideen zu bekommen, wie ich meine Eindrücke künstlerisch verarbeiten könnte. Erst wollte ich etwas über die Kultur der Hamams machen oder über russische Exilant:innen. Am Ende waren es aber sehr persönliche Begegnungen mit Orten und Menschen, die mich inspiriert haben. Istanbul kann einem unglaublich viel innerhalb kurzer Zeit bieten. Zugleich hinterlässt die Stadt aber auch ein Gefühl von Geheimnis und Unbegreiflichkeit. 

KvG Lass uns mit den Papierschnitten beginnen, hierbei die Elemente von sex-positivem Feminismus und Pornografie. 

Yakovleva Natürlich war das Medium nicht zufällig gewählt. Es hat mir Spaß gemacht, diese mit Häuslichkeit, repressiven Frauenbildern, Patriotismus und Heteronormativität besetzte Geschichte des Scherenschnitts aufzubrechen. Ich hatte Lust zu provozieren, auch wenn das Pornografische längst im Mainstream angekommen ist. Zugleich wollte ich eine Art von Schönheit und Verführung erschaffen, die nicht dazu da ist, Männerphantasien zu befriedigen. 

KvG In deinem Werk geht es ja immer auch um Machtverhältnisse. 

Yakovleva Das stimmt. Weil ich Dinge wie Amateurpornografie, antike Tempelprostitution, Online-Sex oder Fetisch thematisiere, denken viele Leute, dass mein Alltag wie ein Porno aussieht. Ich bin ständig im Atelier und verarbeite Images aus dem Internet. Bei diesen gefundenen Bildern von dominanten Frauen oder S/M-Praktiken mutet es so an, als seien die Frauen selbstbestimmt. Meistens werden sie aber als Sex-Workerinnen oder Darstellerinnen von Männern dafür bezahlt. Der Mann ist der Boss. Er bestimmt, wie er gequält oder benutzt werden möchte. 

KvG Auf deinen Bildern scheinen die Frauen wirklich zu herrschen. 

Yakovleva Ja, die Männer erscheinen extrem devot. Die Welt wäre aber nicht besser, wenn Frauen bedingungslose Macht haben. Es geht nicht nur um Geschlecht oder Beziehungen, sondern um „männlich“ geprägte Machtstrukturen. Ich würde das als einen patriarchalischen Kapitalismus beschreiben, zu dessen systemischen Problemen Ungleichheit, Armut, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Frauen- und Transfeindlichkeit, Rassismus und Homophobie gehören. 

KvG Während es auf Netflix oder Disney+ immer liberaler und diverser wird, werden die Gesellschaften repressiver. Ob neu aufflammender Nationalismus, der Ruf nach „christlichen“, heteronormativen Werten, Klimaleugnung, oder auf der anderen Seite die Gier von großen Unternehmen, Lobbyismus oder Korruption – immer sind auch Frauen daran beteiligt. 

Yakovleva Dieses hierarchische Denken, der Herrschafts­anspruch, die Idee, besser zu sein, oder das Konzept, dass einem Menschen und Tiere wie Dinge gehören, ist das Ergebnis einer jahrtausendelangen männlichen Vorherrschaft. Darauf gehe ich auch in Festival de Cannes ein, einem Papierschnitt, der fünf Meter breit und 2,50 Meter hoch ist. Die Arbeit ist 2020 während der Corona-Zeit entstanden. Damals wurden alle Festivals abgesagt, auch das Filmfestival in Cannes. Bereits 2018 brach der #MeToo-Skandal um Harvey Weinstein aus, der dort ein begehrter Gast war, während er sein Unwesen in den Hotels an der Cote d’Azur trieb. Dann kam Corona. Weinstein saß im Gefängnis, das Festival und auch die Auseinandersetzung mit diesem Thema vor Ort fiel aus. Das passiert ja auch häufiger im Kunstbetrieb, in dem es weitaus mehr #MeToo-Fälle gibt, als man annimmt. 

KvG Man möchte offenen Konflikten möglichst aus dem Weg gehen. 

Yakovleva Genau. Ich habe mir vorgestellt, Corona würde andauern und das Festival eine Dekade lang ausfallen. Das Gebäude würde verfallen und wieder eröffnen. Aber wie eine anarchische Dorfdisco. Es gibt ein Vergnügungshaus für Frauen und feminine Identitäten. Mir geht es auch darum, dass das Hyper-Weibliche, Sexuelle existieren darf, ohne dass man deswegen belästigt, ausgebeutet oder verurteilt wird.

KvG Aber dieses Frauenbild ist ja auch total kapitalistisch. Du sollst Rebellin sein, Künstlerin, Mutter, Unternehmerin. Du kannst schwarz und queer sein, behindert, aber du musst immer begehrenswert aussehen. Gerade heute las ich eine Kritik am neuen Barbie- Film und auch an Mattel, dass Barbie jetzt als „feministisch“ verkauft wird, für Empowerment steht. Dabei sollen Frauen, egal wie erfolgreich, immer noch aussehen wie Puppen. Die Rezensentin schrieb, dass Barbie weiterhin Plastik ist und hohl bleibt. 

Yakovleva Man könnte dasselbe über die Repräsentation von Galeriemitarbeiterinnen, über Porno-Darstellerinnen oder Nachrichtensprecherinnen sagen. Natürlich gibt es kein Em­powerment, wenn sich das System, die tatsächlichen Machtverhältnisse nicht ändern. Zugleich stören mich diese spekulativen Utopien im Kunstbetrieb, in denen alles schön poetisch geheimnisvoll und sexy reduziert aussieht, so dass man keinem auf die Füße tritt. Deshalb nutze ich auch diese sexualisierten, bewusst ordinären  Stereotypen: die Bikini-Amazone, die Domina-Göttin, die rebellische Hure – weil sie hohle Gefäße mit hoher Signalwirkung sind, die man mit eigenen Inhalten füllen kann. Dafür liebe ich auch den Papierschnitt, weil er messerscharf, grafisch, hart, geradezu klischeehaft ist. Es gibt nur Kontraste, keine Grauzonen. Ideal für Stereotypen und Agitprop. Ich sehe die Frauen auf meinen Bildern eher wie umprogrammierte Godzilla-Barbies an, die das System crashen – in High Heels. 

KvG Woher kommt dieser Ansatz, volkstümliche Kunst oder Kunsthandwerk mit anderen Inhalten zu füllen und so als Ideologiekritik zu nutzen? 

Yakovleva Ich bin zwar als Kind in St. Petersburg aufgewachsen, habe aber erst später während eines Besuches in Russland die Palech-Lackdosen gesehen. Diese dekorativen, mit Szenen aus russischen Volksmärchen bemalten Lackminiaturen wurden in der Sowjetunion im selben Stil durch Panzer oder sozialistische Helden und Symbole ersetzt. Das hat mich fasziniert: Wie Weltanschauungen, die hinter volkstümlichen Darstellungen und Techniken stecken, auch gezielt mit anderen Inhalten und Ideologien aufgeladen werden können.

KvG Was waren denn deine frühen Begegnungen mit Kunst? Als Kind hast du in der jüdischen Gemeinde in St. Petersburg Kunstkurse besucht.

Yakovleva Meine Mutter hat mich wie die meisten russischen Mütter in zig Kurse gesteckt, vom Ballett, Gesang und Sporttanz bis zur Stadt- und Museumskunde. Das war in den 90ern nach dem Zerfall der Sowjetunion – einer Ära, die geprägt war von Bandenkriminalität, Armut, Planlosigkeit und gleichzeitiger Hoffnung auf eine freie und bessere Zukunft. In dieser Zeit bin ich ins Theater, in die Oper, in die Hermitage gegangen und bin Menschen begegnet, die trotz des gesellschaftlichen Verfalls Schwanensee tanzten oder uns Kindern kreatives Programm boten. Weil meine Mutter auch jüdische Wurzeln hat, besuchte ich außerdem noch die jüdische Gemeinde, die für meine Mutter eine Art Flucht aus der antisemitisch geprägten Sowjetunion war. Meine Erinnerungen an die Gemeinde sind geprägt von Festen. Ständig gab es etwas zu feiern, ob es nun Pessach war oder Sukkot, wir Kinder haben dann im Rahmen der ganzen Feste Bühnenbilder, Masken, Handpuppen gebastelt und unsere Ergebnisse in Theater­stücken und Vorführungen präsentiert.

KvG Deine jüdischen Wurzeln sind interessant, wenn man deinen Papierschnitt Hinter den Kulissen (2022) sieht. Er wirkt auf den ersten Blick wie ein fantastisches Zirkusbild, das auch eine Illustration aus einem Kinderbuch sein könnte.
Akrobaten fliegen durch die Luft, Dressurpferde durchqueren die Manege. Giraffen, Elefanten, Tiger schauen aus einem Käfig. Doch in diesem Gewirr aus Zeltplanen, Seilen, Gittern, Kammern und Gängen liegt etwas Beunruhigendes, Kafka­eskes. Tatsächlich hast du ein Historienbild geschaffen, ein Holocaust-Bild. 

Yakovleva Diese Arbeit ist inspiriert vom Leben der Zirkusreiterin Irene Storms-Bento, die aus einer berühmten jüdischen Zirkusfamilie stammte, die fast alle in Auschwitz ermordet wurden. Auf der Suche nach einem Zirkus, in dem sie trotz des Berufsverbotes für Juden arbeiten konnte, verliebte sie sich in einen Clown des Zirkus Althoff und überlebte nur dank des Engagements des Direktors und seines Ensembles, die sie trotz unzähliger Kontrollen tarnten und versteckten. Mit dem Zirkus reiste sie unter Lebensgefahr durch Nazideutschland, trat als „kleine Italienerin“ mit Pferdeakrobatik vor einem Publikum auf, das sie jederzeit denunzieren konnte. Im Vordergrund sieht man Irene Bento und ihre Wahlfamilie in Uniformen und Zirkuskostümen. Links oben in der Kuppel Soldaten, Züge mit Menschen auf dem Weg ins Konzentrationslager, Braunhemden im Publikum. 

KvG Was mich an deinen Papierschnitten begeistert, ist, wie tief sie in die koloniale und faschistische Vergangenheit Europas eindringen. Ich muss da an die volkstümlichen Motive denken, die Märchen und Mythen, mit denen das koloniale Denken und die weiße Vorherrschaft in die europäischen Gesellschaften eingeschrieben wurden. 

Yakovleva Man kann nicht über Feminismus nachdenken, feministische Kunst machen, ohne auch über koloniale, totalitäre Systeme zu sprechen, diesen patriarchalischen Kapitalismus, der gerade droht, die gesamte Welt zu kannibalisieren und auszulöschen. Für mich ist es faszinierend zu sehen, wie ich weniger durch theoretische Auseinandersetzung, sondern über die haptische Beschäftigung mit dem Papierschnitt an diesen Punkt gelange. Dieses Mäandernde, Ornamentale, Flirrende in meinen Arbeiten entspricht auch dem künstlerischen Prozess. Je mehr ich mich in das Thema oder das Material vertiefe, umso mehr verlasse ich den sicheren Boden, diesen Anspruch, auf der richtigen Seite zu stehen. Es wird immer komplexer, widersprüchlicher. Und genau das liebe ich.