© Fritz Winter, MHK, VG-Bildkunst Bonn 2022, Foto: Sabrina Andra
Fritz Winter: Komposition vor Blau und Gelb , in der Neuen Galerie in Kassel, Öl auf Leinwand, 381 × 615 cm, 1955 ©



ungegenständlich

Links oben in der Ecke ein Pünktchen. / Rechts unten in der Ecke ein Pünktchen. / Und in der Mitte gar nichts. / Und gar nichts ist viel. / Sehr viel – jedenfalls / viel mehr als etwas.

Der Künstler und Bauhaus-Lehrer Wassily Kandinsky greift in seinem Gedicht Leere die Ausdruckskraft von Kreis, Linie und Fläche auf. Zwei Punkte setzen eine leere Fläche in ein spannungsvolles Verhältnis, das nicht durch „etwas“ – etwa Sprache – zu greifen ist, sondern sich aus Fläche und Punkten herausfor­muliert. Dieser kleine Grundkurs in Abstraktion reflektiert das Verhältnis von Idee, Ideal und Abstraktion in Sprache und bildender Kunst. Seine Dynamik generiert nicht erst seit der Moderne neue künstlerische Ausdrucksformen, die sich bis zur Gegenstandslosigkeit der ihre eigenen Mittel infrage stellenden Malerei – zum Beispiel des abstrakten Expressionismus – steigert. Abstraktion und Gegenstandslosigkeit lassen sich dabei nicht immer scharf gegeneinander abgrenzen. Mikroskopische Perspektiven auf die Natur, atomare und kosmische Dimensionen, die der Wahrnehmung bislang verschlossen waren, werden ebenso wie die menschliche Psyche spätestens seit der Jahrhundertwende popularisiert und verändern die Grenzen des stofflichen Referenzrahmens.

Diese unscharfen Grenzen sind es auch, die der Maler Fritz Winter (1905–1976) in seinen Bildern formuliert. Der Bauhaus-Schüler, der neben Kandinsky von Paul Klee beeinflusst wurde, entwickelte eine abstrakte Bildsprache aus Flächen, Linien und Farbe, die er in verschiedenen Maltechniken, mit Schablonen, Pinsel und Spatel auf die Leinwand brachte. Neben der abstrakten Werkreihe Triebkräfte der Erde, die während der NS-Herrschaft im Verborgenen entstand, ist eines seiner bekanntesten Werke die Komposition vor Blau und Gelb, eine kulturhistorische Inkunabel der Nachkriegszeit in Deutschland. Auf der ersten documenta 1955 wurde die Komposition von Arnold Bode, Winter und Werner Haftmann als Verbindungsstück zwischen Moderne und Gegenwart, Gegenständlichkeit und Abstraktion inszeniert und medial in Szene gesetzt. Im großen Malereisaal des Fridericianums war das Werk selbstbewusst als Gegenüber von Picassos Gemälde Mädchen vor einem Spiegel von 1932 platziert. Fritz Winters Bild diente als Symbol für den Neuanfang der deutschen Nachkriegsabstraktion, die zugleich an die künstlerischen Entwicklungen anknüpfen sollte, wie sie vor der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland existierten.

In der vergangenen Ausstellung Fritz Winter. documenta-Künstler der ersten Stunde wurde die Komposition erstmals wieder in Kassel in der Neuen Galerie gezeigt. Im begleitenden Katalog wird der spannende und zunehmend politische Diskurs der Nachkriegszeit um Gegenständlichkeit, Abstraktion und ungegenständliche Malerei anhand von Winters Werk nachvollzogen. Es ist ein ganz besonderes Glück, dass Winters Komposition nun durch den Ankauf der Hessischen Kulturstiftung und weiterer Förderer dauerhaft an seiner kulturhistorischen Wirkungsstätte ausgestellt wird.

In der Komposition vor Blau und Gelb verschaltet Winter verschiedene Elemente zu einem abstrakten Erfahrungsraum, in dem wir uns anhand von Farbe, Linie, Fläche und Opazität orientieren. So reflektieren die aus dem Gelb des Vordergrunds in die Tiefe der grauen Textur gefalteten Bänder in Überschneidungen und Durchbrüchen die Zustände Davor und Dahinter. Den Fluchtpunkt des so entwickelten Raums bildet die blaue Fläche in der Bildmitte. Rechts sticht eine in verschiedenen Flächen kippende Strichfigur aus dem Vordergrund in den Raum, während zwei schwarze, mit zeichenhaften Pinselstrichen versehene Bänder die rechte Bildseite begrenzen. Winters Lehrer Kandinsky schreibt an viel zitierter Stelle: „Wenn ich genügend Zeit vom Schicksal geschenkt bekomme, entdecke ich eine neue internationale Sprache, die ewig sein und sich unendlich entwickeln wird und die nicht Esperanto heißt. Malerei heißt sie.“ Mit Fritz Winters Komposition vor Blau und Gelb kehrt ein Lehrstück der abstrakten Formsprache der Malerei und ihres Diskursfeldes nach Kassel zurück.

  • Neue Galerie / Museumslandschaft Hessen Kassel
  • Fritz Winter, Komposition vor Blau und Gelb
  • Schöne Aussicht 1, 34117 Kassel
  • Di—So 10—17 Uhr, Fr 10­—20 Uhr
  • www.museum-kassel.de