durchtasten
„Ich bin ein Plastiker“, sagt Goethe 1826 mit Verweis auf den Abguss des antiken Juno-Kopfes – für ihn das Idealbild der Skulptur. Das Bekenntnis mag überraschen. Hat sich der Dichter in seinen späten Jahren als Bildhauer neu erfunden? Nein, der Dichter und Naturforscher identifiziert sich aus dem Interesse am Körperhaften heraus mit dem Bildner, der die Dinge der Welt und der Natur plastisch zu fassen sucht. Goethe modelliert in Ton: Das Formen eröffnet ihm eine sinnesphysiologische Wahrheit der menschlichen Gestalt. Skulptur begreift er mit dem taktilen Gefühl – die Wahrnehmungsweise macht die ‚durchtastete‘ Gestalt als bewegtes und organisch gebildetes Ganzes erfahrbar. In Goethes „Ich bin“-Aussage zeigt sich mithin eine weniger bekannte Facette seines Schöpfertums, in der die Plastik als lebendige Gestalterfahrung und gestaltendes Potenzial der Bild-, aber auch der Dichtkunst sichtbar wird.
„Ich bin ein Plastiker“ lautet der Titel des Buches von Christa Lichtenstern, die das Thema umfassend auf der Grundlage von neuen Beobachtungen untersucht hat. Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik findet mit dem Basiswerk zur Goethe’schen Plastiktheorie publizistische Realisierung und erfährt darüber hinaus eine analytische Erweiterung bis in die Gegenwartsskulptur. In ihrer Untersuchung vollzieht die Autorin an Goethes Biografie und ästhetischen Erkenntnisinteressen die Entwicklung von seinem dynamischen Formbegriff nach. Sie geht dabei von der Frage aus, welche Einwirkung Goethes plastische Auffassung auf ihn als Dichter und Morphologe hatte. An einer Reihe von bedeutenden Künstlern wird veranschaulicht, inwieweit Goethes Plastikverständnis auf die bildnerische Praxis seiner Zeit wirkte und später noch für moderne Bildhauer maßgeblich gewesen ist.
- „Ich bin ein Plastiker“
- Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik
- Publikation von Christa Lichtenstern
- Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2022
- ISBN 978-3-422-98786-9