Editorial

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

der „Leser ist zerflossen“, schreibt Hugo von Hofmannsthal, „wie eine Seifenblase“ – nicht bei der Lektüre etwa, sondern weil ihm der Autor ein Ende gesetzt hat: Platzen ließ  Hofmannsthal Den Leser, ein geplantes Essay über die­jenigen, in denen ein Gedicht – allzu selten – lebendig und durch die Zeiten getragen werde. Das Gedicht verlange Leserinnen und Leser. Dem möchten wir an dieser Stelle im Sinne des Dichters nachkommen.

Weihnacht, 1892 geschrieben, wird durch die, die es lesen, zum Anlass einer poetischen Erinnerung, die in Tönen und Düften aus der zeitlichen Ferne andrängt. Zerflossen in Zeit und Erinnerung – von manchen so erlebt. Doch klingt  in der Gegenwart der unsterblichen Phänomene auch die Ungewissheit darüber an, was das Neue bringen wird. 

Ihre
Eva Claudia Scholtz
Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung

 

Weihnacht
Hugo von Hofmannsthal

Weihnachtsgeläute
Im nächtigen Wind …
Wer weiß, wo heute
Die Glocken sind,
Die Töne von damals sind?

Die lebenden Töne
Verflogener Jahr’,
Mit kindischer Schöne
Und duftendem Haar,
Und tannenduftigem Haar,

Mit Lippen und Locken
Von Träumen schwer? …
Und wo kommen die Glocken
Von heute her,
Die wandernden heute her?

Die kommenden Tage,
Die weh’n da vorbei. –   
– Wer hört’s, ob Klage,
Ob lachender Mai
Ob blühender, glühender Mai? .

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