Mohammed Chabâa: Ohne Titel, 1977, Acrylfarbe auf Leinwand, 75 × 95 cm, © Mohammed Chabâa Estate. Tate: Erworben von Nadia Chabâa mit Mitteln des
Nicholas Themans Trust und des Middle East North Africa Acquisitions Committee 2022, Foto: © Fouad Mazouz

Neue Welle

Die Unabhängigkeit Marokkos von der kolonialen Fremdbestimmung 1956 führt in der Folge zu einer Avantgardebewegung. Sie verband mit der Loslösung von der französischen Herrschaft ein kulturelles Selbstverständnis, in dem die Kunst –
und mit ihr die Gesellschaft – über kulturpolitische Reformen und plurale Gemeinschaftlichkeit entkolonialisiert und demokratisiert werden sollte. Von einer kleinen Gruppe marokkanischer Kunstprofessoren ging diese Welle der Erneuerung aus, die in Lehre und Praxis an der Kunsthochschule in Casablanca einging. Nicht nur institutionell zeitigte die aufstrebende Bewegung durch ihre internationalen Hauptvertreter Wirkung, sondern auch in ihrem sozialen Anliegen: Sie drang nach draußen, vor die Tore der Bastionen kolonialer Tradition, der Akademien, Museen und Salons, in denen neben der Exklusivität des von der Kolonialhoheit vorgegebenen kunsthistorischen Kanons ein naiver Exotismus gepflegt wurde. Im gelebten Raum sowie in den alltäglichen Dingen nahm indes die „befreite“ Kunst für alle zugängliche Formen an: in der Architektur, der Wandmalerei, in der Grafik wie im Design, aber auch bei Open-Air-Ausstellungen. Die neue Ästhetik der Einschließlichkeit schöpfte aus dem Reservoir des lokalen arabischen und amazighischen Kulturerbes und nahm künstlerische Einflüsse der westlichen Moderne – etwa aus dem Bauhaus – auf. In dem geometrisch-abstrakte, auch indigene sowie islamische Tendenzen vereinenden Bildvokabular spiegelt sich die kollektive Vision übernational vernetzter Künstler:innen wider, die eine authentische kulturelle Tradition in den Blick nahmen, welche Zukunft und Moderne mitgestalten sollte.

Erst in jüngerer Zeit öffnen sich westliche Museen und Galerien der modernen Kunst des globalen Südens, widmen sich Kurator:innen der Geschichte der Casablanca Art School. Demnächst würdigt die Schirn die künstlerische Schule, die das Bild der Moderne des 20. Jahrhunderts um ein wichtiges Kapitel erweitert und zur Ausdifferenzierung des kunsthistorischen Kanons beiträgt.

  • Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987
  • Schirn Kunsthalle Frankfurt
  • 12. Juli–13. Oktober 2024
  • Römerberg, 60311 Frankfurt am Main
  • Telefon +49 69 299882-0
  • schirn.de
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