stipendiat
jeronimo voss
Mit dem Stipendium der Hessischen Kulturstiftung ist Jeronimo Voss (*1981) auf den Spuren historischer Illusionsapparate um die Welt gereist. Ausgangspunkt seiner breiten Recherche, für die er im Vorfeld schon ein Arbeitsstipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung nutzte, war eine nach der Französischen Revolution sehr populäre Bühnenattraktion, die Phantasmagoria. Den aus dem altgriechischen Phantasma (Trugbild, Erscheinung) und Agora (öffentlicher Versammlungsplatz) zusammengesetzten Begriff untersucht Voss in seinen künstlerischen Arbeiten, dehnt ihn dabei aber weit über die technisch-dramaturgischen Phänomene hinaus. Er verwendet ihn zur Betrachtung der Gegenwart: In den Schichtungen und Überschneidungen von bewegten Bildern, die er im Alltag urbaner Räume findet, entzaubern sich so manche reale Illusionen.
Der in Frankfurt lebende Künstler hat an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Städelschule von 2003 bis 2009 bei Prof. Tobias Rehberger studiert. Neben zahlreichen Ausstellungen, unter anderem bei der Galerie Cinzia Friedlaender, Berlin, der Secession Wien und dem SMBA Stedelijk Museum Amsterdam (Lecture Performance), war Jeronimo Voss mit einer umfangreichen Arbeit aus diesem Themenkreis 2012 auf der dOCUMENTA 13 vertreten. Die Installation Die Ewigkeit durch die Sterne, in der Voss visuell historische und astronomische Revolutionen verknüpft, wurde zusammen mit der Bildmontage Phantascope (In Dependent Gravity)im Rahmen der Präsentation seiner Stipendiumsarbeit Phantasmagorical Horizon (beide 2013) in seiner ersten institutionellen Einzelausstellung 2013/14 im Zollamt MMK Museum für Moderne Kunst gezeigt. Zuletzt war Phantasmagorical Horizon bei dem Cine Dreams-Festival der Fondazione Nicola Trussardi – MIART in Mailand zu sehen.
Das das Stipendiumsprojekt umfassende Künstlerbuch Phantasmagorical Horizon wird in Kürze im Revolver Verlag, Berlin, erscheinen.
Über vergangene, gegenwärtige und zukünftige Horizontlinien hat Karin Görner mit Jeronimo Voss im Interview gesprochen.
hks Jeronimo Voss, Sie haben nach dem Abschluss Ihres Studiums 2009 mehrere große Arbeiten vorgelegt, die sich mit historischen visuellen Apparaten beschäftigen. Die Mediengeschichte und Bildtechnik der Phantasmagorie zieht sich dabei durch alle Arbeiten wie ein roter Faden. Haben sie in der Installation Phantasmagorical Horizon (2013) schließlich zusammengefunden?
voss Die Phantasmagorie entstand in Paris nach der Französischen Revolution. Ihre Schausteller nutzten einfache Projektionstechniken, um Trugbilder zu erzeugen – oft waren es nur ein paar Glasbilder, projiziert durch eine versteckte Laterna Magica, einen frühen Öllampen-Projektor. Diese Techniken haben sich schnell verbreitet, da Schausteller auf der Suche nach ihrem Publikum weite Reisen unternehmen mussten. Ich konnte also erst 2013, mit dem Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung, eine entsprechend umfangreiche Recherche dazu beginnen.
hks Was waren die Stationen Ihrer Reise?
voss Ich traf Anfang 2013 die Dokumentaristin Françoise Levie in Paris. Sie begann schon in den 1980er Jahren die Frühgeschichte der Phantasmagorie zu recherchieren. Daraus entstand ein ausführliches Buch über das Leben des Phantasmagorikers Étienne-Gaspard Robertson. Für einen Fernsehdokumentarfilm rekonstruierte sie schließlich seine Technik, Glasbilder auf Rauch zu projizieren und so Geisterillusionen zu erzeugen. All dieses Material stellte sie mir zur Verfügung. Dann bin ich nach London und Amsterdam gereist und wieder zurück nach Paris, dann nach New York, wo Anfang des 19. Jahrhunderts viele europäische Phantasmagoriker gearbeitet haben. Dann weiter nach Peking. Und so wurde Phantasmagorical Horizon letztlich ein Porträt der phantasmagorischen Gegenwart. Das Video beginnt mit der historischen Recherche in Paris und wird schließlich selbst zu einer Phantasmagorie, in der sich Kometen- und Meteoritenschwärme in umliegenden Gebäudefassaden und Autoglasscheiben spiegeln.
hks Um die Stadt als Phantasmagorie geht es auch in Ihrer Arbeit In Dependent Gravity (2013). Diese Arbeit haben Sie neben Phantasmagorical Horizon und Ihrem documenta-Beitrag Die Ewigkeit durch die Sterne (2012/2013) im Zollamt des MMK Museum für Moderne Kunst in Frankfurt im vergangenen Winter gezeigt.
voss Die Beschäftigung mit der Geschichte der Phantasmagorie veränderte für mich nicht nur mein Verständnis von Kunst und dem, was in Ausstellungen passiert. Die Phantasmagorie geht heute weit über die Formen hinaus, die sie nach der Französischen Revolution als Schaustellerei hervorgebracht hat. Sie ist nicht mehr nur eine räumliche Installation oder Bühnenshow. Mittlerweile strukturiert diese Wahrnehmungsform unseren Alltag. Karl Marx etwa schreibt in Das Kapital über die „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“. Dadurch, dass die Phantasmagorie Teil unserer alltäglichen Realität wurde, ist sie für mich auch eine Methode, die den Ausstellungsraum mit der Außenwelt verbindet.
Die Dia-Montagen von In Dependent Gravity bezogen sich sehr konkret auf die Baustelle neben dem MMK Zollamt. Hier wird aktuell die zerstörte Altstadt wieder aufgebaut. Gleichzeitig werden immer mehr Gebäude der internationalen Nachkriegsmoderne in Frankfurt am Main und anderen deutschen Städten abgerissen. Es geht um die Phantasmagorie in den Straßen und Städten.
In Kassel habe ich mit Laterna Magica-Slides aus dem 19. Jahrhundert gearbeitet, die astronomische Revolutionen, Rotationen und Umlaufbahnen darstellen. Ich habe sie restaurieren und digitalisieren lassen und zu Louis-Auguste Blanquis astronomischer Schrift Die Ewigkeit durch die Sterne in Beziehung gesetzt. Der Revolutionär und Theoretiker der Pariser Commune von 1871 hat da ein Weltbild entwickelt, das zunächst vielleicht befremdlich, aber dann auch wieder sehr plausibel klingt. Seine Hypothese, dass sich in der Unendlichkeit des Raums alle Entscheidungen und Ereignisse in unendlich vielen Varianten wiederholen, kann, wie jede These über die Unendlichkeit, wohl weder bewiesen und noch entkräftet werden. So entstand eine Parabel über die naturgesetzlichen Revolutionen der Sterne und die Revolutionen der Geschichte. Im unendlichen Raum ist jede gegebene Situation, die uns als Zwangsläufigkeit erscheint, nur eine von unendlich vielen Varianten von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. In Blanquis Weltsicht ist nichts wirklich vorbei, alles, was möglich ist, ist auch real, und jede Entscheidung wird irgendwo in der Unendlichkeit anders entschieden. Vielleicht ist es ja eine realistische Aufgabe von Kunst an diese Möglichkeiten zu erinnern.
hks Im Moment kreisen ja noch weitere Projekte über den Horizont, einmal die Publikation zu den drei im MMK gezeigten Arbeiten …
voss Das wird eigentlich eine eigenständige Arbeit, ein Künstlerbuch, in dem ich versuche, die Bildgeschichten aus Phantasmagorical Horizon, In Dependent Gravity und Die Ewigkeit durch die Sterne in ein Buchformat zu übersetzen. Bild und Text werden auf transparenten Papierseiten überblendet, die so die Bildmontagen meiner Installationen aufnehmen. Die Texte von Astrid Mania, Chris Tedjasukmana und Christiane Ketteler beschäftigen sich ausgehend von der Ausstellung im MMK mit der Geschichte und Gegenwart der Phantasmagorie. Das Buch wird im Sommer 2014 im Revolver-Verlag erscheinen.
hks … und dann ist da noch ganz aktuell das Projekt Philosophicum, das ja auch schon länger bekannte partizipative Konzepte für den öffentlichen Raum wieder aufgreift und weiterentwickelt …
voss Ja. Es entstand vor vier Jahren als Stadtteilinitiative gegen steigende Mieten und Zwangsräumungen in Frankfurt. Die Initiative setzte sich zum Ziel, das denkmalgeschützte Philosophicum, ein ehemaliges Seminargebäude des Universitätscampus Bockenheim, vor dem Abriss zu bewahren und in ein selbstorganisiertes Mietersyndikat für 150 Menschen umzuwandeln. Es wird hier also keinen Vermieter mit Gewinnerwartungen geben, sondern einen Mieterverein, der über Mieteinnahmen lediglich die zuvor gesammelten Kredite abbezahlt.
Das neunstöckige Hochhaus wurde 1960 von dem Architekten Ferdinand Kramer fertiggestellt. Manche finden die Betonfassaden nicht besonders schön, dafür ist das Haus mit seiner funktionalistischen Architektur, ohne tragende Wände aufgrund des außenliegenden Stahlskeletts, um so geeigneter für unterschiedliche Nutzungen unter einem Dach. Hier entstehen Wohnungen für alte und junge Mieter, Singles, Familien, Menschen mit Handicaps, Wohngemeinschaften und verschiedene Arbeits- und Gewerberäume, ein Stadtteilbüro, ein Café, eine Kita. Und so sind auch einige Künstler Teil des Projekts geworden: Jessica Sehrt, Martin Stiehl mit dem Institut für Gebrauchsgrafik, Siw Umsonst und ich, weitere werden sicher noch folgen. Wir wollen im Obergeschoss Ateliers und Werkstätten realisieren und wir werden helfen, finanzielle Unterstützungen für das Hausprojekt einzuwerben. Das Projekt basiert nicht notwendig auf den Geldmitteln seiner Mitglieder, sondern auf vielen kleinen und größeren Direktkrediten, die von außen in das Projekt investiert werden. Ich denke, dass dieses Haus eine besondere Bedeutung in Frankfurt haben könnte. Nicht nur, weil ich es falsch finde, die Architektur der Nachkriegsmoderne aus dem Stadtbild zu tilgen und statt dessen Fachwerkhäuschen wieder aufzubauen. Dieses Projekt zeigt, dass die Phantasmagorien unserer Städte auch einen ganz anderen Weg nehmen können.