stipendiat onur gökmen
Onur Gökmen wurde 1985 in Ankara geboren und pendelt gewöhnlich zwischen Istanbul und Berlin. Im Moment lebt er als Stipendiat der Hessischen Kulturstiftung im stiftungseigenen Atelier in New York. Seine künstlerische Praxis umfasst vielfältige Methoden und Genres, dazu zählen Skulpturen, Fotografie, Videos, Installationen und Performances. Gökmens Werk zeugt von seinem Interesse, vermeintlich historische Gewissheiten infrage zu stellen. Dafür erkundet er häufig archäologische Strukturen und damit verbundene Ideologien. Seine Arbeiten wurden bislang in zahlreichen internationalen Institutionen ausgestellt, darunter sind SALT, Istanbul; tinyBE#1, Darmstadt; Museum für Moderne Kunst MMK, Frankfurt; MoMA PS1, NY; Asia Culture Center, Gwangju; BAHAR, 13th Sharjah Biennial; Delfina Foundation, London und DEPO, Istanbul. 2011 wurde er in Istanbul mit dem Akbank Contemporary Artists Prize ausgezeichnet.
Gökmens Stipendiatenaufenthalt dieses Jahr in New York ist auch eine Rückkehr in die USA, nachdem er dort am Bard College seinen MFA erworben hat (zeitgleich hat er auch sein Studium an der Städelschule in Frankfurt abgeschlossen). In diesem Interview mit Andil Gosine, Professor of Environmental Arts and Justice an der York University in Toronto und Autor von Nature’s Wild: Love, Sex and Law in the Caribbean (Duke University Press) spricht Gökmen über sein Leben in der Stadt nach der Pandemie und gewährt Einblicke in seine jüngsten und aktuellen Projekte. Eines dieser Projekte umfasst die Produktion neuer Porträts seiner Freunde und vielleicht auch seiner selbst – aus der Ferne.
Dr. Andil Gosine Wie hast du dich in New York eingelebt? Du hast ja als MFA-Student schon einmal in den USA gelebt. Wie ist es, nun als Stipendiat und nicht länger als Student, unter diesen veränderten sozialen und postpandemischen Bedingungen zurückzukehren?
Onur Gökmen Die gegenwärtige wirtschaftliche Situation macht für mich, ehrlich gesagt, den größten Unterschied. Ich lebe zwar in Deutschland, aber die türkische Lira ist um das Sechsfache schwächer als zu meiner Zeit hier 2015. Das heißt, Freunde aus Istanbul können mich nur schwer besuchen, dadurch fühlt sich dieser Ort ein wenig isoliert und wie eine Insel an. Außerdem ist die Stadt nach der Pandemie teurer geworden, und es ist nun wesentlich anstrengender, das nötige Geld zu verdienen. Aber immerhin ist ein Großteil des Kunstmarkts nach wie vor in den USA angesiedelt. Von hier aus gesehen wird das besonders deutlich.
Gosine Du hast 2019 mit deiner Arbeit Main, Bosphorized bereits deine Frustration angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse im Kunstmarkt zum Ausdruck gebracht. Für diese Hommage an Füsun Onur, die ihre Skulpturen aus ihrem Atelier hinausgeworfen hatte, hast du deine Skulpturen im Main in Frankfurt versenkt.
Gökmen Ich mag das Werk von Füsun Onur sehr und finde, dass sie nach wie vor unterschätzt wird. Sie kam in den 1960er Jahren in die USA und kehrte dann direkt nach Istanbul zurück. In den 1970er und -80er Jahren hat sie sehr viele Arbeiten produziert, aber es gab keinen Markt dafür. Sie hat ihre Skulpturen weggeworfen, weil sie sich den Raum für ihre Lagerung nicht leisten konnte. Ihre Geschichte ist mir nur allzu vertraut. Ich hatte als Türke in Deutschland immer das Gefühl, dass der Aspekt von Identität im kreativen Prozess stärker in den Mittelpunkt rückt. Ein weißer Künstler kann machen, was er will, ich hingegen musste eine Art Selbsterkundung betreiben oder zumindest thematisieren, dass ich aus der Türkei komme. Meine Skulpturen in den Fluss zu werfen war eine symbolische Geste. Die fünf Arbeiten waren gemeinsam mit Freunden entstanden, wobei es von Anfang die Absicht gab, sie am Ende auf diese Weise zu entsorgen. Es war eine humorvolle Reaktion auf die Realitäten des Kunstmarkts, zum Beispiel die Notwendigkeit, Arbeiten zu lagern, die sich nicht verkaufen lassen. Wir haben in einer Art Umkehr des Prozesses die Frage an den Anfang gestellt: „Wo werde ich eine Arbeit deponieren, die nicht verkauft werden wird?“ Ich weiß nicht, wie sich der Kunstmarkt seit Füsun Onurs Beseitigungsakt verändert hat.
Gosine In beinahe all deinen Arbeiten kommt dein starkes Interesse an historischen Vorläufern zum Ausdruck, wie sie in unserer Gegenwart präsent sind, insbesondere in Bezug auf Politik, Architektur und die Umwelt. Wie erklärt sich dieser Entwicklungsverlauf in deiner Arbeit?
Gökmen Das Thema Architektur ist eher zufällig in meiner Arbeit aufgetaucht. Es entsprang damals wohl eher dem Wunsch nach einer Verarbeitung des Unbewussten. Während einer Unterhaltung vor ein paar Wochen sagte meine Gesprächspartnerin zu mir, dass ich „wie ein Deutscher“ aussehen und reden würde. Sie empfahl mir, „eine etwas türkischere Attitüde“ an den Tag zu legen, was auch immer das heißen mag. Ankara sollte als Hauptstadt der neuen Republik der Inbegriff der türkischen Moderne sein. An der Gestaltung der Stadt waren zahlreiche deutsche und österreichische Architekten beteiligt. Ich bin in der Nähe der Middle East Technical University in Ankara aufgewachsen, wo meine Eltern als Professoren tätig waren. Es ist eine brutalistische Architektur. Die Universität ist in gewisser Weise eher eine Erweiterung des Marshall-Plans, ein amerikanisches Projekt in einem Frontstaat des Kalten Krieges. Während ihrer frühen Entwicklung hat die Türkei von der U.S. Agency for International Development, der Ford Foundation, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Central Treaty Organization beträchtliche finanzielle Unterstützung erhalten. Auch im Zusammenhang mit der obigen, eher anekdotisch erzählten Geschichte der Stadt finde ich es schwierig, das Persönliche von Politik, Architektur und der Umwelt zu trennen. Schließlich hat mich die Architektur in gewisser Weise geprägt, und ihr liegt immer auch Ideologie zugrunde. Außerdem finde ich die Architektur interessant, weil sie von längerer Dauer ist als andere menschliche Artefakte.
Gosine Du hast angefangen, Videos in deine Praxis als Bildhauer zu integrieren. Wie kam es dazu?
Gökmen Meine Hinwendung zum Video verdankt sich eigentlich der Skulptur. Zu jener Zeit haderte ich mit dem statischen Charakter der Skulptur, daher begann ich ab dieser Zeit, meine Skulpturen zu animieren oder sie in Performances einzusetzen, und ich fertigte von diesem Prozess Videos an. Momentan arbeite ich vorwiegend an Skulpturen, die ich dann filme. In der Phase, in der ich mit Videos experimentierte, interessierte ich mich für verschiedene Objekte, vor allem Objekte, die irgendwie „neutral“ erschienen, wie ein Silo oder unterschiedliche Formen, die eine moderne Maschinerie suggerierten. Ich fragte mich, ob sie unter dem Deckmantel ihrer Neutralität auch eine Ideologie repräsentierten. So, wie ein Silo die Assoziation mit der Industrialisierung heraufbeschwört.
Es gab damals diese spezielle Zeitschrift, die ich sammelte, sie hieß La Turquie kémaliste, sie war für eine ausländische Zielgruppe gedacht, wurde aber vom türkischen Innenministerium herausgegeben. Die Texte wurden in deutscher, französischer und englischer Sprache verfasst. Im Prinzip ging es darum, dem Westen zu beweisen, dass die Türkei „Schritt hielt“, dass sie ein modernes Land war. Als Beleg dafür zeigte man Abbildungen der neuen Architektur, die aus Beton und Metall bestand. Mein Interesse an Skulpturen hat also mit meiner Idee begonnen, mit den ideologischen Bedeutungen zu spielen, die in solchen Objekten verborgen sind.
Gosine Dein jüngstes Werk mit dem Titel Modern Cemetery (2022–fortlaufend) ist eindeutig persönlicher als die anderen Arbeiten. Du hast dafür Details deiner Familiengeschichte offenbart, und man sieht die Mitglieder deiner Familie auf dem Bildschirm. Das scheint mir ein wichtiger Entwicklungsschritt in deiner künstlerischen Praxis zu sein, du wendest deinen Blick sozusagen nach innen. Ist das richtig?
Gökmen Ja, diese Arbeit hat definitiv einen persönlicheren Charakter. Das war jedoch nicht von vornherein so geplant. Ich habe meine Großmutter Gülten im November 2019 verloren. Sie hatte in ihrem Testament verfügt, dass sie im Grab ihrer Großmutter beigesetzt würde. Das Begräbnis brachte eine Geschichte aus der Vergangenheit unserer Familie zutage, die zeitlich parallel zur Auflösung des Osmanischen Reichs und der Gründung der Republik Türkei verläuft.
Meine Ururgroßmutter wurde in Rožaje, Montenegro geboren. Ihr Ehemann, ein Offizier, starb im Krieg. Eines Tages wurde ihr Haus überfallen, und sie schaffte es noch, ihre Kinder im Ofen zu verstecken. Sie entschied sich daraufhin, Montenegro zu verlassen, und siedelte in das Osmanische Reich über, wo sie sich schließlich in Ankara niederließ und 1947 verstarb. Ihr bescheidener Grabstein wies einen Schreibfehler auf, der mir sehr seltsam erschien. Ihr Name war „Emine Mayko”, aber dort stand „Emine Manyak“¹. Auch mein Vater zeigte sich angesichts des „Fehlers“ überrascht, meine Großmutter ging jedoch auf seine Fragen nicht ein und sagte, es würde sich lediglich um einen Schreibfehler handeln. Als mein Onkel die Archive des Ankara Cebeci Asri Mezarlığı (des städtischen Friedhofs Cebeci in Ankara) ² aufsuchte, um Gültens Verwandtschaft mit Emine zu belegen, fand er ein Dokument, das sein Onkel Sabahattin unterzeichnet hatte. Es legt folgendes mögliches Szenario nahe: Sabahattin geriet mit Emine vor ihrem Ableben in Streit und rächte sich, indem er ihren Zunamen auf dem Grabstein in Manyak veränderte. Ich glaube, Sabahattin war psychisch instabil, er hat sich später in seinen Dreißigern das Leben genommen.
In gewisser Weise ist es also eine „persönliche Geschichte“, aber es spielt auch der Aspekt eines generationsübergreifenden Traumas mit hinein. Damit muss ich mich immer noch auseinandersetzen, nicht nur mental, sondern auch physisch. Die emotionale Vernachlässigung und das Trauma des Krieges haben die Kinderjahre meines Vaters definitiv überschattet. Einen Teil dieses Traumas hat er mir sicherlich vererbt. Obwohl ich den Grabstein nur als Ausdruck des erlittenen Traumas betrachte, verläuft seine Geschichte auch zeitlich parallel zur Auflösung des Osmanischen Reichs und zur Gründung der Republik Türkei.
Gosine Auch deine neueste Arbeit in New York hat diesen persönlichen Aspekt. Du fertigst gerade Porträts deiner Freunde in Istanbul an.
Gökmen Ja, ich bin hier in New York City, und viele meiner Freunde sind in Istanbul. Ich denke oft an sie. Einen Besuch hier bei mir können sie sich aus Kostengründen eigentlich nicht leisten. Und dann kam mir die Idee für dieses Projekt, für das ich Porträts meiner Freunde anfertigen wollte.
Ich habe jeden Einzelnen von ihnen gebeten, mir ein Objekt seiner Wahl zu schicken und auch ein Passfoto. Als Ausgangspunkt habe ich dann Verpackungsmaterial gewählt. Hier in New York gibt es solche Unmengen davon, das kann man eigentlich kaum ignorieren. Also begann ich, Stücke aus Schaumstoff und Pappe auszuschneiden, und während ich dies tat, dachte ich an eine bestimmte Person. Die endgültige Form ergab sich aus einem intuitiven Prozess. Dann fügte ich dem Verpackungsmaterial etwas hinzu oder nahm etwas weg und beschichtete es anschließend. Schließlich überlegte ich, ob ich es farblich gestalten sollte oder nicht, und fügte andere Materialien und Text hinzu.
Ich habe mich mit dem Aspekt der Abstraktion in meiner Arbeit befasst, was es bedeutet, jemanden oder etwas zu abstrahieren … dafür versuche ich auch eine Lösung zu finden. Die Arbeiten zeigen meine Freunde, es sind jedoch keine figurativen Porträts … ich erkunde verschiedene Ideen. Meine Freundin Belkis hat mir beispielsweise ihre Handyhülle geschickt, daraufhin habe ich mir die Frage nach der Identität des Künstlers gestellt, wie wir uns manchmal für den Kunstmarkt verpacken müssen, wie wir unsere Subjektivitäten zu einer Art Marke umgestalten und uns für den Verkauf objektivieren. Als Vorbereitung auf das Projekt habe ich ein Aquarell von ihr angefertigt. Sie hält eine Orange in den Händen, da sie in einer Gegend mit Orangenbaumplantagen aufgewachsen ist. Ich habe sie als Dorfbewohnerin gemalt, die von London, New York, Paris träumt. Das ist humoristisch zu verstehen … ich schaue sie an, projiziere aber meine eigenen Ängste und Träume auf mein Porträt von ihr. Eine andere Arbeit ist meinem Freund Mochu gewidmet, der ein ausgesprochen rationaler Typ ist. Ich wollte einen Kontrast der Materialien herausarbeiten und beschloss, noch eine begleitende Arbeit von seiner Freundin anzufertigen. Während des Gestaltungsprozesses habe ich jedoch gemerkt, dass es überhaupt nicht nach ihr aussah. Vielmehr schien es eher um eine andere Freundin zu gehen, die ich für diese Serie noch gar nicht kontaktiert hatte! Zeynep, eine Freundin, die Kuratorin ist, hat mir ein Teesieb geschickt, das ich in diese Arbeit aufgenommen habe. Tee ist eine wirklich große Sache in der Türkei. Das Teesieb ist alt, es suggeriert vergangene Traditionen und Sorgen. Vielleicht verstecke ich es, manchmal will man etwas zeigen und manchmal eben nicht.
1 Das türkische Wort „manyak“ kann auf Deutsch mit „manisch“ oder „verrückt“ übersetzt werden.
2 Der deutsche Architekt Martin Elsaesser (1884–1957) gewann 1935 den internationalen Wettbewerb, der von Ankara für die Friedhofsgestaltung ausgeschrieben wurde. In seinem Entwurf plante Elsaesser den Friedhof als „moderne Anlage“, die aber nicht vollständig realisiert wurde.