Stipendiat Raul Walch
In seiner künstlerischen Praxis bewegt sich Raul Walch zwischen Installation, Skulptur, Malerei, Textilien und fotografischer Dokumentation. Er beschäftigt sich kontinuierlich mit dem sozialen Potenzial von Kunstwerken. Da er eine reine Atelierpraxis als einschränkend empfindet, erweitert der in Frankfurt am Main geborene, heute in Berlin lebende Künstler den Horizont seiner Recherchen durch Reisen. Auf ihnen sucht er oft den Kontakt mit lokalen Communities und interessiert sich für die von ihnen genutzten Materialien und gemeinsame Themen.
Mit Textilien beschäftigt sich Walch in seinen Recherchen schon seit längerer Zeit, zuletzt in einer Reihe von temporären Pavillons, die zarte, bewegliche Schutzräume für ihre Besucher bieten. Ein unmittelbares Interesse für die Zerstörung und Umgestaltung unserer natürlichen Umwelt spiegelt sich in mehreren jüngeren Projekten wider. Vor einem Jahr, mitten in der Pandemie, zeigte Walch die Arbeit Ocean Nine als Beitrag zur Ausstellung Zero Waste am Museum der bildenden Künste Leipzig: ein riesiges Mobile, gestaltet aus verschiedenen synthetischen Stoffen bzw. Found Footage, Zeltstangen, Drähten, Seilen, Schrott und Agrotextilien, wie man sie zum Beispiel aus der Landwirtschaft kennt.
Neben seiner künstlerischen Praxis lehrte Walch von 2019 bis 2021 im Rahmen des Public-Art-Programms an der Bauhaus-Universität Weimar. Derzeit ist er als Co-Initiator des akademischen Programms der Floating University in Berlin aktiv, einer vom Künstlerverbund Urbane Praxis Berlin geförderten sozialen Kooperative, die 2018 von raumlaborberlin gegründet wurde.
Im Juli 2021 sprach er mit der in Berlin lebenden Kritikerin Chloe Stead über seine jüngsten Projekte, darunter auch Owned by Others, das 2019/20 durch ein Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung nach Namibia ermöglicht wurde.
Chloe Stead Zurzeit nimmst du an der Ausstellung Park Platz vor der Berlinischen Galerie teil. Sie ereignet sich, wie der Name schon sagt, auf dem Parkplatz des Museums. Was kannst du mir über deinen Beitrag zu dieser Ausstellung erzählen?
Raul Walch Außerhalb eines Museums zu arbeiten finde ich inspirierender, als drinnen etwas zu machen. Für einen Künstler, dessen Schwerpunkt auf dem öffentlichen Raum liegt, ist es spannend zu beobachten, wie die Pandemie Museen dazu veranlasst hat, unkonventionelle Formate auszuprobieren. Ich weiß aus Erfahrung, dass es für sie manchmal schwierig sein kann, von tradierten Arbeitsmethoden abzuweichen.
Meine Einladung umfasste die Möglichkeit, anhand der drei Flaggenmasten, die vor dem Museum stehen, ein Projekt zu entwickeln. Ich tauschte die gewöhnlich dort flatternden Fahnen der Berlinischen Galerie durch drei neue, bemalte Werke aus der Reihe Heat Flags aus. Der Titel ist inspiriert von den sogenannten heat maps, also Diagrammen zur Visualisierung von Wärme, und greift auf, dass wir Farben oft mit Temperaturen assoziieren, sie aber als Farbspektren auch Veränderungen zum Beispiel von Höhe oder anderen Verlaufsformen darstellen können. Mit den drei Flaggen werden außerdem drei unterschiedliche Größenverhältnisse repräsentiert: eine regionale, kontinentale und globale Ebene. Im Zusammenhang mit dieser Intervention arbeite ich außerdem an einer Kooperation mit Mitgliedern der Community vor Ort.
Stead Worin genau besteht diese Zusammenarbeit?
Walch Nun, das Projekt wurde aufgrund der Covid-Einschränkungen schon mehrfach verschoben, aber ich arbeite mit Menschen aus einer Geflüchtetensiedlung in der Nähe sowie mit jungen Glasingenieur*innen, die in eine Berufsschule nebenan gehen, und mit einer Nachbarschaftsinitiative ein paar Blocks vom Museum entfernt. Gemeinsam wollen wir erst drei Vorhänge entwerfen und sie dann herstellen. Sie sollen als bewegliche Trennwände für den temporären Pavillon der Ausstellung fungieren, wo dann Workshops, Vorträge und Community Events stattfinden werden.
Stead Etwas, das ich an der Arbeit mit Stoff als Medium sehr interessant finde – insbesondere im öffentlichen Raum –, hat mit seiner Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit im Zusammenspiel mit den Elementen zu tun. Der Wind ist auch tatsächlich ein wichtiger Aspekt in Assembly (2021), einer interaktiven, kinetischen Skulptur, die du für die diesjährige Ausstellung Ruhr Ding: Klima der Urbanen Künste Ruhr produziert hast. Diese Ausstellung für Kunst im öffentlichen Raum ereignete sich an mehreren Orten, darunter dem Silbersee II, einem beliebten künstlich angelegten See in der Stadt Haltern am See. Wie bist du auf dieses ungewöhnliche Setting eingegangen?
Walch Die Grundidee bestand darin, mitten in diesem See eine Insel zu schaffen, die mit einem Segel ausgestattet sein und sich mit dem Wind bewegen sollte. Auf der Strandseite bemühen sich die Menschen selbstverständlich, so weit voneinander entfernt zu sitzen wie möglich. Aber auf dieser Plattform gab es keine andere Möglichkeit, als sich nahe zu kommen, wodurch die Idee des Gemeinsam-Seins an einem Ort zur selben Zeit in den Vordergrund rückte. Es war eine große Herausforderung für mich, da ich noch nie zuvor eine so komplexe, schwimmende Struktur gebaut hatte. Das Schwierige war wirklich, dass sie einerseits flexibel genug sein musste, sich mit dem Wind zu bewegen, gleichzeitig aber bis zu 40 Personen tragen sollte.
Stead Wie beurteilst du den Erfolg partizipativer Projekte wie diesem? Bedeutet es dir etwas, dass deine Projekte eine große Bandbreite an Menschen ansprechen können?
Walch Der Erfolg der Arbeit für Urbane Künste Ruhr liegt darin, dass die Menschen an den Ausstellungsorten sie gut angenommen haben. Wenn man Ausstellungen an unkonventionellen
Orten macht, muss man sich der unterschiedlichen Hintergründe der Besucher*innen, die der Arbeit begegnen werden, viel stärker bewusst sein als in abgeschlosseneren Kunstorten. Es ist mir sehr wichtig, auf diese Herausforderung einzugehen und eine offene und positive Sprache zu verwenden, die die Menschen zusammenführt und das unterstreicht, was uns vereint, anstatt aufzuzeigen, was uns voneinander trennt. Im Rahmen von Assembly arbeitete ich auch mit einem Windsurfing-Verein zusammen, für den ich eine Reihe bemalter Segel und Surfboards produzierte. Vereinsmitglieder konnten mit ihnen „performen“, und das war eine tolle Art, mit einem alltäglichen Aspekt des Lebens an diesem See in Verbindung zu kommen.
Stead Diese Arbeiten gehören zu einer fortlaufenden Serie, die du Spherical Semaphore genannt hast. Das bezieht sich auf eine Art der Kommunikation, wie sie Seeleute mit Flaggen nutzen. Viele deiner Arbeiten, auch diese, zeigen bunte geometrische Muster. Sie scheinen ihrem Publikum etwas mitteilen zu wollen. Was verbirgt sich hinter deiner Arbeit mit diesen Formen?
Walch Dieser Ansatz geht zurück auf die Farbkodierungen, die es im öffentlichen Raum bereits gibt. Zum Beispiel kann eine Nation ihr Gebiet mit einem dreifarbigen Muster darstellen. Ich fand es spannend herauszufinden, was passiert, wenn man diese Muster verändert, ohne sie komplett zu abstrahieren – sodass die Menschen sie immer noch zu lesen versuchen. Außerdem interessiere ich mich für optische Phänomene. Bei dem Projekt mit dem Windsurfing-Verein zum Beispiel verwendete ich auf den jeweiligen Seiten des Segels unterschiedliche Muster. Wenn ein*e bestimmte*r Surfer*in einen Trick machte, verlor man ihn oder sie dadurch fast aus dem Blick bzw. konnte die Person auf dem See plötzlich nicht mehr so leicht ausfindig machen.
Stead Diese Projekte fanden beide in Deutschland statt, aber in einem älteren Interview sagst du, dass du „durch Reisen“ recherchierst und „jedes Mal neue Orte und Themen“ aufnimmst. In der Vergangenheit entstanden im Kontext dieser „Suche nach dem Unbekannten“, wie du es nennst, Projekte in Städten wie Addis Abeba, Seoul und Tokio. Inwiefern hat das Leben mit Reisebeschränkungen deine Praxis über die letzten anderthalb Jahre verändert?
Walch Für mich war das Reisen zu Ausstellungen oder Residencies eine Möglichkeit, mehr über mir bisher unbekannte Dinge zu lernen und auch anderen Kulturen näherzukommen bzw. Respekt gegenüber kulturellen Unterschieden zu erfahren. Aber mit dem Einbruch der Pandemie habe ich aufgehört zu fliegen – die weiteste Reise in dieser Zeit führte in die Alpen –, und dadurch habe ich eindeutig begonnen, mein eigenes Verhalten in Bezug auf das Reisen anders zu reflektieren. Ich habe erkannt, dass es möglich ist, globale Themen auch in einem lokalen Setting anzugehen.
Stead Wenn du in communityorientierten Szenarios arbeitest, egal ob zu Hause oder im Ausland, besteht immer die Gefahr, genau die Menschen, mit denen du arbeiten möchtest, zu exotisieren bzw. als „den Anderen“ zu konstruieren. Wie vermeidest du diese Tendenz, wenn du etwas mit Gemeinschaften realisierst, denen du selbst nicht angehörst?
Walch Es kann tatsächlich ausbeuterisch sein, die Bedingungen eines Raumes zu deiner Bühne zu machen. Aber ein wichtiger Schritt kann darin bestehen, den für dich neuen Ort zur Umwelt oder Gesellschaft, aus der du kommst, in Beziehung zu setzen. Ein Beispiel dafür ist das Projekt Sceptical Chemist, das ich über Plastikmüll aus den riesigen Gewächshäusern im Süden Spaniens gemacht habe. Hier war mein Anliegen, eine Verbindung zum Konsumverhalten in Deutschland herzustellen.
Stead Neben deiner Arbeit als Künstler bist du im Vorstand des bbk Berlin, eines Berufsverbands für Künstler*innen, und engagierst dich auch als einer der Initiator*innen der Plattform gegen rechts Die Vielen. Wie siehst du das Verhältnis zwischen diesem Engagement und deiner Kunst?
Walch Es ist zwar nicht immer leicht, aber ich versuche, meine künstlerischen Aktivitäten nicht mit meinen aktivistischen Projekten zu vermischen. Klar gibt es da einen Bezug, aber wenn es um meine Kunst geht, versuche ich damit nicht, ein Publikum zu erziehen. In meiner Arbeit als Aktivist erlaube ich mir in diesem Punkt einen direkteren Ansatz, der dann womöglich etwas weniger poetisch, abstrakt oder mystisch ist. Es kann eine Art Ventil für mich sein, zum Beispiel ein Projekt über das Wahlrecht zu machen, weil es dann auch darum geht, so viele Menschen wie nur möglich zu erreichen. Kunstwerke dagegen brauchen nicht unbedingt so ein riesiges Publikum, um bedeutsam zu sein. Wie bereits erwähnt, reicht mir der Kontakt eins zu eins oft schon aus, und im Kontext meiner Kunst verspüre ich auch eine viel größere Freiheit, für mich selbst zu sprechen. Im Gegensatz dazu ist Politik immer eine kollektive Anstrengung.
Stead Mit meiner nächsten Frage möchte ich dich auf Owned by Others ansprechen, eine Initiative, die von mehreren Reisen nach Namibia inspiriert wurde, die du 2019 mit einem Stipendium der Hessischen Kulturstiftung unternommen hast.
Walch Ich bin zweimal nach Namibia gereist und wollte eigentlich noch ein drittes Mal fahren, aber das war aufgrund der Reisebeschränkungen dann nicht mehr möglich. Stattdessen dachte ich aber weiter über die deutsche Kolonialgeschichte nach und auch inwiefern sich diese strukturellen Machtverhältnisse bis in die heutige Zeit ziehen. Zusammen mit dem Kulturwissenschaftler Lutz Henke startete ich dann ein Projekt über die Berliner Museumsinsel. Damit wandten wir uns auch anderen Themen zu, die uns in diesem Kontext interessieren, zum Beispiel den Fehlplanungen des öffentlichen Raums in der Neuen Mitte Berlins. Owned by Others fand im Herbst 2020 über fünf Monate hinweg durch eine Reihe von Interventionen statt: Wir luden Künstler*innen aus Bagdad, Guatemala City, Addis Abeba, Tijuana, Dakar und Berlin ein, Arbeiten zu zeigen, die sich mit tradierten Machtsymboliken bzw. der sich verändernden Stadtlandschaft beschäftigen und Narrative, Orte und Artefakte der Berliner Museumsinsel aufzeigen. Die beteiligten Künstler*innen betrachteten die Umgebung mit kritischem Blick und nahmen auch das Humboldt Forum ins Visier, das mit einer rekonstruierten Fassade des ehemaligen Königspalastes daherkommt. Gleichzeitig reflektiert es die deutsche Kolonialgeschichte mit all ihren Abgründen aus meiner Sicht nicht genügend.
Stead Wie waren die Reaktionen auf dieses Projekt? Ich kann mir vorstellen, dass es für einiges Aufsehen gesorgt hat …
Walch Das Projekt hat von Künstler*innen und Aktivist*innen viel Aufmerksamkeit bekommen, aber in der Pandemie konnten wir immer nur mit sehr kleinen Gruppen arbeiten. Statt großer Veranstaltungen verwendeten wir eine kartenbasierte Website und ein öffentliches Archiv – www.ownedbyothers.org – und veranstalteten wöchentliche Treffen vor unserem Projektraum am Spreeufer 6, das im Nicolai-Viertel direkt gegenüber dem Humboldt Forum liegt. Wir planen gerade, im Herbst einige der künstlerischen Arbeiten noch einmal zu zeigen und auch ein paar neue Produktionen zu präsentieren. Owned by Others hatte bereits einen spürbar positiven Effekt. Unser Projektraum wird mittlerweile als ein Ort für dekoloniale Aktionen benutzt, verschiedene Initiativen kommen hier zusammen. Das wird ganz sicher noch für einiges Aufsehen sorgen!
Deutsche Übersetzung von Anna-Sophie Springer