stipendiatin christin berg
Das ziellose Durchstreifen der Straßen von Paris und das ausschnitthafte Beobachten von Petitessen am Wegesrand hat in der französischen Hauptstadt eine lange literarische Tradition. In der Figur des Flâneurs, der über die Pariser Boulevards spaziert, den es aber genauso in die dunklen Ecken der Stadt verschlägt, kommt die moderne Metropole zu einem Bewusstsein.
Christin Berg (*1982) reflektierte während ihres Aufenthalts in Paris diese moderne Figur, die von Autoren wie Honoré de Balzac, Marcel Proust oder Walter Benjamin geprägt wurde und die Praxis zahlreicher Künstler beeinflusste.
Die Protagonistin in Bergs neustem Filmprojekt ist eine Flâneuse, die sich durch eine apokalyptische Fiktion der Stadt Paris bewegt. Die Kunst der Bewegung zwischen Gehen, Tanz, politischem oder individuellem Ausdruck bildet eines der zentralen Motive ihres im Entstehen begriffenen Films Aus der Perspektive einer Gehenden oder unter dem Pflaster liegt der Strand.
Mit der Analogkamera begab sich die Künstlerin aber auch selbst täglich auf Streifzüge durch Paris. Solche Spaziergänge sind für Berg häufig der Einstig ins Filmemachen. Mit dieser Routine sondiert sie die Ästhetik ihrer Umgebung, die sie sich für ihre ausdrucksstarken Filme wünscht. Für den dritten Film ihrer Trilogie Fire on Air kooperiert Christin Berg mit Tänzern, Choreografen, Musikern und anderen Künstlerinnen und Künstlern.
Christin Berg schloss 2015 als Meisterschülerin bei Douglas Gordon ihr Studium an der Städel-Schule ab. Sie studierte vorher an der Slade School of Fine Art in London und erhielt ein Diplom in Scenography der University of Applied Sciences and Arts in Hannover. Im Interview mit der französischen Filmwissenschaftlerin und Intellektuellen Clara Schulmann berichtet sie vom Rhythmus ihrer Arbeit, von der Verbindung von Schreiben, Musik, Zeichnung und Tanz, die sie in ihren Filmen zu einem Spiel aus Wirklichkeit und Fiktion zusammenwirkt.
Clara Schulmann Ein Ausgangspunkt ihres aktuellen Filmprojekts Aus der Perspektive einer Gehenden ist ein Tagebuch oder eine Chronik, die sie verfassen, seitdem sie letztes Jahr in Paris angekommen sind. Welcher Zusammenhang besteht für sie zwischen dem Schreiben und dem Filmen? Und welche Künstler stehen für diese persönliche Gleichung Pate?
Christin Berg Filmemachen bedeutet für mich Struktur, aber auch Aufdecken von Chaos und Komplexität und ihre Einbindung in ästhetische Schemata. Das Schreiben ist ein Training, eine Verlängerung des Geistes in die Praxis, zur Vita activa. Es ist ein sehr privater Moment, in dem ich – ohne, dass man es mir ansieht – extrem sein kann. Für jemanden, der nicht viel redet wie ich, ist es auch ein Ventil für Überreizung oder Wut.
Meine Ambition, eine Geschichte zu erzählen, stammt immer aus Stimmungen und Reaktionen auf mein Umfeld. Hier in Paris zu sein bedeutet, mit den Ahnen dieser Stadt umzugehen und unter dem Zuckerguss das Fundament zu erkennen. Im Off von dem im Fokus Stehenden beobachte ich Menschen und Symbole und versuche, diese Stadt in meiner abstrakten, filmischen Beschreibung trotzdem zur Wiedererkennung freizugeben.
Beim Schreiben existiert ein Takt wie beim Spielen eines Tasteninstruments. Dieser Rhythmus ist eine Vorahnung auf die Abfolge von Bildern und den späteren Filmschnitt. Film ist immer Rhythmus – Beat auf Beat. Ich lese mit Vorliebe Gedichte von Patti Smith und höre ihren Poetry Readings zu. Dabei entstehen Bilder in mir. Susan Sontag konnte das Schreiben und Filmen vereinen; wie bei ihrem Film Letter from Venice (1983), der auf ihrer gleichnamigen Kurzgeschichte basiert. Ich verehre seit Längerem die Filmemacherin Nina Menkes, die ebenfalls schreibt und poetische Bilder dreht, wie auch die Gedichte von Pier Paolo Pasolini. Obwohl ich hier auf dem Boden stehe und zu keiner Götterwelt hoch muss. In Paris stieß ich auf die Gruppe der Lettrist International um Guy Debord. Diese Vereinigung aus den 1950er Jahren rief dazu auf, die Stadt zu okkupieren, zu transformieren, indem sie zum Beispiel tagelang durch den urbanen Raum streiften. Das war schon eine Art Choreografie.
Schulmann Das Schreiben ist eine einsame Praxis und das Filmen eine kollektive. Ist das ein Rhythmus, mit dem Künstler zu leben gewohnt sind?
Berg Das Alleinsein ist eine Kunst, aus der man Kraft schöpfen kann, schon der Filmemacher Tarkowski hat darüber gesprochen. Bei meiner Atelierarbeit bin ich ja nie allein; jeder Künstler hat seine Werke, Bilder, Inspirationen oder eben den leeren Raum, den es zu füllen gilt. Die Stille, das weiße Blatt, den schwarzen Bildschirm durch etwas zu ersetzen, darum geht es, sich einer Leere bewusst zu werden. Eine Gruppe hat eigene Energien. Deswegen ist es interessant, mit wem ich als Künstler kooperiere, es muss stimmig sein, damit aus der Zusammenarbeit etwas Neues entsteht. Durch die Schweizer Tänzerin Jasminka Stenz erhielt ich Zugang zu einer Tanzschule, wo wechselnde Choreografen jeden Morgen die internationalen Tänzer dieser Stadt aufwärmten. Ich habe hier Bewegungsabläufe der Ensemblearbeit studiert, gezeichnet und Kooperationspartner entdeckt. Gruppendynamiken beleben. In Paris habe ich außerdem zusammen mit Filmemachern aus dem Atelierhaus der Cité internationale des arts einen Filmsalon namens Collective Screening gegründet, unsere eigene nächtliche Theaterkantine.
Schulmann In ihrem Projekt ist Paris sowohl die Stadt mit historischem Hintergrund in Bezug auf künstlerische Praktiken wie das Flanieren als auch die Stadt der Gegenwart mit Demonstrationen oder Graffiti, voller „sound and fury“. Auf welche Weise versucht ihr Projekt, diese verschiedenen Dimensionen festzuhalten?
Berg Die Protagonistin meines Films ist eine zeitgenössische Flâneuse und bildet ein starkes Pendant in der Abfolge der im Gehen reflektierenden Künstlergruppierungen und Philosophen in Paris, wie die Surrealisten, die Situationistische Internationale oder auch Sophie Calle, die andere Passanten verfolgte und sich selbst hat verfolgen lassen. Durch Erkundungen zu Fuß habe ich diese Stadt kennengelernt, sehen gelernt. Film ist technisch, die Stadt Paris ist aber auch eine Stimmung. In einigen Texten beschreibe ich Paris wie eine gehende Person. Es gibt Gliedmaßen, einen Kopf, das Zentrum, ein Herz, das pulsiert, und einen Rücken, auf dem vieles lastet. Auch einen Arsch, für den sich niemand interessiert. In dieser Mensch-Maschine-Stadt ist alles verteilt, was das Leben im Positiven und Negativen ausmacht.
Film ist eine Schichtung von Ebenen. Jede Dimension habe ich definiert: Geschichtlicher Hintergrund ist der Bildausschnitt, die Imagination und die Schwarz-Weiß-Ästhetik sind eine dezeitige Wut oder das Zeitgeschehen, der Sound ist ein Blick in die Zukunft, und der Filmschnitt ist der Aufruf, ein Appell vielleicht.
Schulmann Ihr Projekt befasst sich mit einem möglichen Ende der Welt, dem ihre Protagonistin gegenübersteht. Es hat eine erstaunliche Parallele zur gegenwärtigen Situation rund um die Corona-Pandemie. Wie und warum sind sie auf diese Möglichkeit eines extremen Szenarios gekommen? Ist es eine Möglichkeit, den Fiktionsgrad zu erhöhen?
Berg Ich bin in Ost-Berlin aufgewachsen. Die Freiheiten nach dem Fall der Mauer hat meine Generation auskosten können. Aber Freiheiten sind nicht ewig. Während meines Aufenthalts in Paris korrespondierte ich mit dem Cinematografen Jakob Stark am Nordpol. Dort ist ein Forschungsschiff für ein Jahr festgefroren und nimmt Messungen im Permafrost vor. Die Art und Weise, wie die Nordpolexpedition Vorhersagen vermittelt, ist für den umweltbewussten Menschen eindringlich. Unsere Endlichkeit und die unserer Ressourcen ist keine Fiktion. Vor der Pandemie hatte die Klimakatastrophe viel öffentliches Interesse. Nun ist das, was uns am nächsten ist, auch am meisten spürbar. Auf meinen Erkundungsgängen durch die Stadt hatte ich das Gefühl, dass meiner Fiktion etwas Intensives hinzugefügt werden muss, um einen zeitgenössischen Flâneur darzustellen, abseits der Symbolik und Pracht dieser Stadt.
Das Element Wasser ist im Film in verschiedenen Aggregatzuständen ein konstantes Motiv: als Atem, als Lebenselixier, aber auch als Bedrohung. 1910 ereignete sich in Paris das letzte wirkliche Hochwasser der Seine. Es gibt Bildmaterial darüber, wie das stehende Wasser auf den Boulevards verzerrt die Pracht der Gebäude widerspiegelte und wie die Bewohner in der Katastrophe improvisierten. Meine Filmprojekte entstehen aus Recherchen zu aktuellen Themen, diese dokumentarischen Elemente verwebe ich dann mit der Fiktion und entwickle einen prägnanten Protagonisten, der für unsere Zeit stehen kann.
Im vergangenen Jahr wechselte das Bild des Lebens auf den Straßen stetig zwischen dem Brand von Notre-Dame, den Demonstrationen der Gelbwesten, Generalstreiks und der Stilllegung des öffentlichen Verkehrs. In diesem Jahr übertrat die Seine die Uferwege, die im Moment menschenleer sind. Unsere Zeit ist endlich, und im klassischen Spielfilm endet sie für den Protagonisten nach nur 90 Minuten. Im Film wird Zeit übersprungen, aber im realen Leben, unserem 24/7, schleudern wir durch jede Sekunde. Krisen wecken das Bewusstsein für Zeit.
Schulmann In ihren früheren Projekten scheint der Klang ein wertvoller Verbündeter zu sein. Sie haben mir Musik geschickt, die sie gerade hören. Welche Pläne haben sie in Bezug auf den Ton in diesem aktuellen Filmprojekt?
Berg Ich liebe den Klang von Bass – tief, geerdet, durchdringend. In diesem Filmprojekt symbolisiert der Ton den Rhythmus des Gehens – Takt, Beat, Impuls, Schritt. Er ist das treibende Element. Ich höre oft den gleichen Sound beim Schreiben wie beim Filmschnitt. Momentan viel Éliane Radigue – die Wegbereiterin der elektroakustischen Musik. Ich verfalle aber auch den Chansons von Barbara oder den Stücken von Laurie Anderson. Bei Éliane Radigue begann ich darüber nachzudenken, wie ein Sound verschieden aufgenommen wird. Wir alle sehen anders und hören anders. Das interessiert mich auch im Film: die verschiedenen Wahrnehmungen von zwei Charakteren, aus denen Konflikte resultieren können. Ich arbeite oft mit Musikern zusammen, wie momentan mit dem Kanadier Ben Shemie oder dem Komponisten Filip Caranica. Von Anfang an dachte ich daran, Dialoge im Film durch Musik und starke körperliche Ausdrücke wie Zeichensprache zu ersetzen. Und das Kommunizieren ohne Dialog funktioniert auch zwischen Fremden, auf Demonstrationen zum Beispiel. Die Stadt auf Spaziergängen zu studieren bedeutet für mich vor allem, die von ihren Bewohnern hinterlassenen oder stummen Botschaften zu entschlüsseln.
Schulmann Ich spüre in ihrer Filmbeschreibung eine Art Sentimentalität, und auch in ihrem Tagebuch benutzten sie dieses Wort. Diese vermeintlich weibliche Art der Aufmerksamkeit interessiert mich: Ihr Film handelt von einer Frau, die allein in der Stadt ist. Das erinnert mich an die Frauenfiguren Cleo oder Wanda in den Filmen von Agnès Varda oder Barbara Loden. Sagt dieses Wort für sie etwas Besonderes aus?
Berg Cleo und Wanda schwanken zwischen Selbstaufgabe und Kampf gegen einen extremen existenziellen Druck. Sie beide lassen sich treiben und sind zeitweise Spielball ihrer Umgebung. Beim Filmemachen suche ich nach Heldenfiguren, weiblichen Charakteren, die an einer Situation wachsen und Stärke zeigen. Im Sinne des französischen le sentiment ist es eine Stimmung, die die Protagonisten in meinen Filmen leitet. Ich denke, es ist weniger ein weibliches Attribut als eine Übung der Sinne. Im Deutschen hat Sentimentalität einen melancholischen Klang, etwas Negatives. Meine Figuren sind empathisch, aufmerksam, aber nicht sentimental. Sie erspüren ihre Umgebung sehr genau. Frauen in der öffentlichen Pariser Straßenszene sind in der Literatur, zum Beispiel bei den Surrealisten, oft zur Komparsin oder Prostituierten degradiert worden. Heute ist das weibliche Geschlecht sehr präsent. Passivität soll kein Charaktermerkmal meiner Helden oder Antihelden sein, und es sollte ebenso kein Merkmal unserer Gesellschaft sein bei einer Neudefinition von Hierarchien. Die weibliche Protagonistin im jetzigen Filmprojekt Flâneuse ist sozial integriert, angesehen, doch sie hat eine Art Vorahnung, weil sie einen Wandel im sozialen Umgang wahrnimmt. Sie ist für alle möglichen Reize empfänglich und mag einen engen Kontakt zur Haut von anderen, kommt aber selbst nicht aus ihrer Haut heraus. Da sind wir Menschen vielleicht alle ähnlich.