stipendiatin laura langer
Die Künstlerin Laura Langer wurde 1986 in Buenos Aires (Argentinien) geboren. Derzeit wohnt Langer im Londoner Atelier der Hessischen Kulturstiftung. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit Gefühlen und psychischen Prozessen, sie untersucht Ängste, Begehren und Identität anhand symbolischer Bilder und ihrer Funktion im Ausstellungsraum. In London recherchiert Langer zu Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne am Warburg Institute. Sie arbeitet mit Fotografie und einem wachsenden Bildarchiv, das auch ihre eigenen Aufnahmen umfasst. Dank des Stipendiums konnte sie ihren Ansatz verfeinern und ihr persönliches Bildarchiv erweitern, das einen maßgeblichen Aspekt ihrer installativen und malerischen Praxis darstellt. Kommende und jüngste Einzelausstellungen von Langer: Lodos Gallery (Mexico City, 2023), Braunsfelder (Köln, 2023), Kunsthaus Glarus (2022), Homesick (Weiss Falk, Basel, 2021, und The Wig, Berlin, 2021) sowie Liberty (Portikus, Frankfurt am Main, 2020).
Laura Langer traf Gianmaria Andreetta für ein Gespräch über ihre bisherigen Ausstellungen und die Bedeutung der Fotografie in ihrer Arbeit. Der Schweizer Kurator und Autor Andreetta lebt derzeit in Berlin.
Gianmaria Andreetta Lass uns mit Gedanken zu Häusern beginnen und darüber sprechen, wie wir uns zu ihnen verhalten. Für deine Ausstellung Homesick im Artist Space The Wig in Berlin im Oktober 2021 hast du ein großes Labyrinth in den Raum gesetzt, das zwei großformatige, beinahe identische Malereien von je einem Skelett verband. Auch deine Einzelausstellung davor bei Weiss Falk in Basel (2021) trug den Titel Homesick. Was sind deine Gedanken zur Symbolik des Labyrinths als einem Haus, das gefangen hält, und zur Bedeutung der Wiederholung?
Laura Langer Beide Ausstellungen waren Einladungen zu einem Perspektivwechsel beziehungsweise einem Verlust von Perspektive. Betrat man den Ausstellungsraum von The Wig, fand man dort eine Küche, eine Badewanne und das Gemälde eines menschlichen Skeletts vor. Eine Ansammlung von Knochen, wie zu einer Untersuchung ausgelegt. Das Gemälde ist ziemlich groß, die menschlichen Überreste sind ungefähr doppelt so groß wie ein Mensch – vielleicht sogar noch größer. Der nächste Raum wird komplett von dem Labyrinth ausgefüllt. Als Besucher*in hat man gegenüber dieser Architektur überhaupt keine Chance und verliert die Orientierung. Von innerhalb des Labyrinths ist der obere Streifen des zweiten Bildes auf der anderen Seite des Raumes zu sehen. Schließlich stehen wir dort vor diesem Bild, sind aber viel zu nah dran, um es wirklich betrachten zu können. Hätten wir nicht bereits das erste Bild mit seinem nachhallenden Motiv gesehen, würde das zweite wahrscheinlich wie verformt wirken. Die Knochen sehen aus wie Fried Chicken. Was entsteht, ist ein Gefühl des Befremdlichen, Ungewohnten, auch dank des total choreografierten Erlebens des Labyrinths. Anamorphosen, mit denen ich schon vorher gearbeitet habe, haben auch mit der Art, wie wir schauen und uns bewegen, zu tun.
Andreetta Das Labyrinth ist mythisch besetzt, aber was bedeutet das für dich?
Langer Ein Labyrinth braucht keine Bedeutung, sondern es bewirkt etwas. Es verlangt dir Aufmerksamkeit und Geduld ab, damit du nicht durchdrehst. Das Labyrinth ist eine gute Metapher für das Schicksal und womöglich anderes. Was seine Architektur betrifft … eigentlich besteht es ja bloß aus einer Reihe von Gängen. Es liegt in der Natur seines Designs, unpraktisch und unsinnig zu sein.
Andreetta Wir assoziieren das Unpraktische oft mit der Bourgeoisie, zum Beispiel im Kontext von Haute Couture. Steht das Labyrinth womöglich auch für Übergänge oder Überwechsel verschiedener Klassen? So wie das Fegefeuer eine Allegorie der Buße darstellt?
Langer Durchaus. Wenn man sich verloren fühlt und sich in einer Phase der Veränderung befindet, ist es gut, innezuhalten und das Tempo rauszunehmen. Übergänge erfordern Geduld.
Andreetta Glaubst du an die beschreibende Kraft der Worte? Eine sehr Lacansche Vorstellung, dass das gesprochene Wort Bildern ähnelt, die sich durch Erörterung entwirren lassen. Homesick bedeutet home + sick, also zu Hause + krank, zuerst das Angenehme, dann der Schmerz. Worauf ich hinaus will, ist eine Art Gedankenexperiment. Hast du das Wort „homesick“ bereits so wahrgenommen? Als eine solche Sequenz?
Langer Ja, ich glaube in der Tat an die beschreibende Kraft der Worte. Aber da ist noch etwas anderes. Es ist gerade dieses vielfältige Bedeutungs- oder Ausdruckspotenzial von Sprache, das mit Worten so schwer zu erfassen ist. Dies erklärt vielleicht, warum ich zwei Ausstellungen gemacht habe, die beide Homesick hießen. Den Titel zweimal zu benutzen ermöglichte es, die Bedeutung des Wortes näher zu untersuchen – zu sehen, welche Aspekte relevant bleiben würden oder eben nicht. Man kann sich beim Gedanken an sein Zuhause schlecht oder „weh-mütig“ fühlen, aber die Vorstellung von daheim ist gleichzeitig tröstlich. Krankheit oder Schmerz bedeuten, dass etwas nicht stimmt. Man ist verletzlich und sollte nach Hause gehen. Wir denken gemeinhin, unser Zuhause sei dort, wo wir als Kinder gelebt haben. In unserer heutigen Welt muss das nicht unbedingt so sein, aber für jemanden wie mich, die im Ausland lebt, ist da schon etwas dran.
Andreetta Was du beschreibst, ist sowohl ein gedanklicher Split als auch das Zusammentreffen zweier emotionaler Zustände.
Langer Worauf ich hinaus will, ist etwas, das man nicht kontrollieren kann, da man es sich nicht wirklich ausgesucht hat. Es geht darum, sich mit dem Verlust von etwas abzufinden, das zu lieben man sich zuvor nicht wirklich bewusst entschieden hat. Das gilt, wenn man in London oder Berlin lebt, oder – wie in meinem Fall – Buenos Aires vermisst. Aber es kann auch auf die Geschichte der Kunst bezogen werden oder auf verschiedene kulturelle Räume oder Familien. Das kennt man auch in Bezug auf die eigene Familie. Man wird seine Mutter immer lieben, auch wenn sie eine furchtbare Person ist. Das gilt für all die Dinge, die wir in uns tragen, die ein Teil von uns sind und bei denen wir unsere emotionale Reaktion nicht wirklich kontrollieren können; wenn deren Verdrängung nicht die ganze Arbeit macht.
Andreetta Meinst du damit vor allem negative Gefühle und Gedanken?
Langer Eher das Unkontrollierbare und den Umgang mit den Widersprüchlichkeiten des Lebens.
Andreetta Wie gehst du mit Artefakten oder Objekten aus der Vergangenheit um? Die meisten Gegenstände sind uns vertraut. In dieser Hinsicht kommt dem Museum eine wichtige – ideologische – Funktion zu, indem es vorgibt, welche Objekte einen Bezug zu uns haben, und damit eine Aussage über uns macht.
Langer Ein tag (Grafikzeichen) von Julius Cäsar an einem griechischen Tempel. Wer soll schon wissen, ob es echt ist oder nicht? Und dann gibt es all die Objekte, die Museen gar nicht zeigen. Die Depots der Museen sind riesig, unendlich.
Andreetta Ich kann mir auch ein Museum mit einem einzigen Gegenstand vorstellen. Jeder Gegenstand hängt in seiner Bedeutung ja von allen anderen ab – selbst, wenn es nur indirekt oder durch Abwesenheit ist. Das bringt mich auf die Frage nach dem Archiv und deine Untersuchungen hier in London am Warburg Institute. Wie viele Objekte braucht man, um von einem Archiv sprechen zu können?
Langer Das Anhäufen und Sammeln von Dingen ist ein zentraler Code in unserer kapitalistischen Existenz. Wir gehen immer davon aus, dass wir eine Vielfalt von Gegenständen bräuchten, um Vergleiche anzustellen, oder auch als Flucht. Ich assoziiere zwanghaftes Sammeln mit einer Flucht vor dem Tod; der Drang, immer mehr haben, aber nichts verlieren zu wollen. Verlust wird mit Versagen in Verbindung gebracht.
Andreetta Ich beobachte in deiner Arbeit ein Spannungsverhältnis, das genau hiermit zu tun hat: zum Beispiel, wie du Fotografien aus dem Alltag sammelst oder selber machst. Du kannst mich gern korrigieren, aber ich denke, du hast nicht unbedingt eine fertige Idee, wie du die Bilder verwenden wirst. Bei der Fotografie verfolgst du auch keinen systematischen Ansatz, du versuchst nicht, etwas zu beweisen. Was würdest du über deine fotografische Praxis sagen? Und was hat das mit Warburgs Atlas Mnemosyne zu tun?
Langer Bei meinen Fotos sind es vor allem die Zufälle in den Bildern, die mich am meisten interessieren: Formen, Farben oder Themen. Diese Dinge sprechen mich an und weisen dann in die eine oder andere Richtung. Dadurch wird dann eine Art editorischer Prozess angestoßen. Ich habe verschiedene Archivierungsstrategien verfolgt und ausprobiert, Kategorien wie „rote Sachen“ oder Abstrakteres wie „Engel“, wo dann sowohl Flugzeuge als auch Menschen landeten, die ich als engelhaft empfand. Es ist noch zu offen. Immer wenn ich ein neues Projekt beginne, schaue ich mein Archiv durch und wähle Bilder aus. Ich vertraue da meiner Intuition. Warburg hat die Bilder nach Genres, Disziplinen und Epochen sortiert – visuell. Ich benutzte auch die Sprache.
Andreetta Ich habe eine Frage zu deiner Verfahrensweise bei der Kunstproduktion. In welchem Verhältnis stehen der oben beschriebene Vorgang und der Beweggrund, ein Kunstwerk zu machen?
Langer Für mich ist der Herstellungsprozess die eigentliche Arbeit am Kunstwerk. Der Beweggrund, dieses Kunstwerk machen zu wollen, ist darin enthalten, er treibt die Dinge auf einer immateriellen Ebene voran. Außerdem gibt es noch die methodische Ausführung, die Praxis. Für mich bedeutet diese Praxis Aufmerksamkeit und die Pflege von Aufmerksamkeit – ob im Atelier oder anderswo.
Andreetta Der Vorgang und Arbeitsprozess kann also ganz viele Sachen außerhalb des Ateliers beinhalten, sogar Nebenjobs.
Langer Dazu gehört alles, das sich mit hineindrängt. Das Leben gibt den Ton an.
Andreetta Ich muss an eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges denken, in der ein Kartograf eine Karte macht, die größer ist als das lebendige Vorbild. Die beiden lassen sich dann nicht mehr auseinanderhalten.
Langer Klingt spannend! Ich wollte immer ein Modell eines Ortes an demselben Ort machen; so wie eine Fotografie die verkleinerte Version des fotografierten Gegenstands ist. Das Original kann verloren gehen. Was bleibt, ist die Poetik des Objekts. Das Vergrößern oder Verkleinern in der Fotografie fühlt sich für mich wie ein Lautstärkeregler in der Musik an.
Andreetta Von bedeutenden Ereignissen haben wir oft nur sehr wenige Bilder, mitunter nur ein einziges. Von trivialen und banalen Dingen haben wir Millionen. Du erwähnst oft dein Interesse für das Banale. Liege ich mit meinem Eindruck richtig, dass du mit deinem Verweis auf das Banale vor allem die Art und Weise meinst, wie du Bilder auswählst und bearbeitest?
Langer Das sind verschiedene, aber verwobene Aspekte. Das Banale ist etwas, das uns automatisch und unbewusst umgibt. Sobald es fotografiert wird, erscheint es jedoch immer schon bearbeitet zu sein. In jüngster Zeit habe ich sehr viele Bilder des Kriegs in der Ukraine angeschaut – das ist der am stärksten dokumentierte Krieg aller Zeiten. Irgendwann sahen dann alle Bilder gleich aus: Schutt, eine stehen gebliebene Mauer, leere Straßen, Rauchwolken, Möbel unter Staubschichten. Wenn man sehr viele Bilder von sehr vielen verschiedenen Ereignissen hat, reagiert man darauf irgendwann wie auf das einzige Bild eines singulären Ereignisses. Letztlich verschwimmt alles zu einem Bild – und genau das ist die Banalität.
Andreetta Du arbeitest an einer Reihe von Bildern zum Thema Staub. Würdest du sagen, Staub ist das, was vom Leben übrig bleibt, ein Lebenszeichen? Oder ist es eher ein widerständiges Material ohne vorgefertigte Bedeutung und Form?
Langer Staub entsteht durch alles, was kaputt ist oder vergeht. Es hat etwas Entwaffnendes. Staub zu betrachten ist eine Art, sich zu verstecken – ich zumindest sehe das so. Im Staub ist nichts – Staub ist das Ende. Stell dir vor, du steckst deinen Kopf in ein Loch und versuchst, das Schöne im Allerallerkleinsten zu entdecken, das selbst wiederum das Resultat eines Zerstörungsprozesses ist. Staub ist Eskapismus, Realitätsflucht.
Andreetta Besteht deine Strategie als Künstlerin darin, die Verzerrung zwischen banalen und überkodierten Bildern zu korrigieren?
Langer Ich bin mir nicht sicher, dass ich ein Bewusstsein dafür habe, was das Banale im Bild ist. Für mich gibt es in allem einen inneren „Glanz“, auch im Banalen. Darum fotografiere und male ich es. Dabei verfolge ich wohl auch eine Art von Archäologie und frage mich, was mir jetzt gerade wichtig ist. Ich denke, dass Aufmerksamkeit Dinge wachsen lassen kann; an Größe, Wichtigkeit und emotionalem Wert.
Andreetta Aufmerksamkeit wird oft als eine begrenzte Ressource besprochen, die man ausbeuten oder schützen kann. Infolgedessen sind wir mit einer Miniaturisierung vieler Dinge konfrontiert. Setzen wir uns nur noch in Ausstellungen mit großformatigen Bildern auseinander?
Langer Keineswegs. Das Kino. Der Himmel. Die Natur. Landschaft. Das sind große Bilder. Alles mit einem Horizont ist ein großes Bild. Sobald man eine große Fläche hat, kann man möglicherweise ein „großes Bild“ wahrnehmen oder eines hineinlesen.
Andreetta In vielen dystopischen Filmen wird die Natur mit dem Tod assoziiert, wodurch das Kino selbst immer mit dem Tod verknüpft ist. Die Realität kann zerstört sein, und trotzdem glauben wir an die Beständigkeit schöner Naturbilder.
Langer Ein Back-up. Ich muss an den Film Cameraperson denken. Wenn Kirsten Johnson, die Kamerafrau und Regisseurin dieses Dokumentarfilms, die Kamera bewegt, können wir auch die Geräusche ihrer Hände an dem Apparat hören. Wir nehmen die Kamera dadurch als ein Objekt war. Es erscheint in unserer Vorstellung außerhalb des Bildrahmens. In dem Film geht es um größere Erzählungen, vor allem Tragödien, ohne jedoch direkte Gewalt zu zeigen. Das ist verwandt mit meiner eigenen momentanen Position: Zeig mir einfach eine Blume oder erlaube mir, die Freude über das Geräusch einer physischen Berührung. Ich muss nicht schon wieder einen Mord sehen. Ich muss nur wissen, dass du da bist und dass ich hier bin mit dir.