Zuletzt wohnhaft

Die in alter Maschinenschrift verzeichneten Adressen enthalten uns vertraute Straßennamen Frankfurts, der Stadt, die vor 1933 zu den bedeutendsten Zentren jüdischen Lebens in Deutschland zählte – und heute mit einer der größten Gemeinden wieder zählt. Dazwischen liegt die Zeit der verbrannten Erde und des Bemühens, ihr gemeindlich gelebtes Judentum wiedererstehen zu lassen. Eine Sammlung von mehreren Tausend Karteikarten, die über Jahrzehnte unbeachtet in den Büroschränken der Jüdischen Gemeinde Frankfurt lag, ist ein Zeugnis dieser Geschichte. Auf jeder Karte zeugt ein schlichter Vermerk zum letzten Wohnort von der Auslöschung des jahrhundertealten jüdischen Lebens in Frankfurt unter der NS-Diktatur. Davon, dass Bürger:innen als verfolgte „Juden“ zu Emigration und Deportation gezwungen wurden, berichten in bürokratischer Kürze die Aufzeichnungen auf dem vergilbten Karton der „Deportationskartei“. Angelegt wurde sie von dem aus dem KZ Theresienstadt zurückgekehrten Rabbiner Dr. Leopold Neuhaus (1879–1954); er sorgte nach Kriegsende für die Rückkehr von Überlebenden und die Wiedergründung der Gemeinde. Neuhaus’ Kartei ist ein wichtiges Zeitdokument zur biografischen Erforschung von Frankfurts Vorkriegsgemeinde wie darüber hinaus zur Geschichte der Deportationen aus Deutschland. Ihrem Zweck, die Leidens- und Lebenswege der Mitglieder nachträglich zu ermitteln, mag die tiefer motivierte Verpflichtung zur Weitergabe eines „erzählenden“ Archivs an die nachkommenden Generationen eingeschrieben sein.
Dieser in Schubladen archivierten Geschichte hat ein Publikationsprojekt nun eine persönliche und würdige Form gegeben: Das Buch 75 Leben porträtiert im Lichte von 75 Jahren jüdischen Gemeindelebens Personen, deren Schicksale stellvertretend für alle erzählt werden, die – ermordet oder gerettet – einst mit der Stadt verbunden waren. Weil deren Stimmen heute fehlen, schlagen Titel wie 75 Leben die nötigen Brücken, um die Erinnerung in die Zukunft weiterzutragen.

  • 75 Leben
  • Publikation von Maike Brüggen in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main
  • ISBN 978-3-95565-660-7
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