Bernhard Härtter

Residenzstipendium der Hessischen Kulturstiftung 1993/1994:
Paris

Interview mit Bernhard Härtter
Das Gespräch mit Bernhard Härtter führte der Kunsthistoriker und Journalist Michael Reitz.

Reitz: Wann und wie lange waren Sie im Rahmen Ihres Stipendiums in Paris?

Härtter: Mai 1993 bis April 1994.

Reitz: Haben Sie eine oder mehrere besondere Erinnerungen an diese Zeit?

Härtter: Ja natürlich, wie könnte es anders sein? Ich weiß nicht, auf welcher Ebene Ihre Frage angesiedelt ist.

Reitz: Sie schrieben damals in Ihrem Resümee für die Hessische Kulturstiftung, dass Sie an der Beziehung und dem Verhältnis von intimem Raum und Öffentlichkeit interessiert wären. Das ist jetzt zwar eine lange Zeit her, aber wie setzte sich das in Ihrer Kunst um, und ist es heute auch noch so, dass Sie dieser Zusammenhang interessiert?

Härtter: Der Künstler stand in einem gewissen Konflikt: Man hatte ihn mit einem wunderbaren Stipendium bedacht, das heißt, man hatte ihm Geld und ein Atelier in Paris zur Verfügung gestellt, und darüber hinaus auch noch Mittel zur Finanzierung eines Katalogs. Dieses Glück kannte keine Pflichten, außer diesen: Nach Ende des Aufenthalts sollte der Künstler eine Ausstellung in Hessen organisieren und weiter sollte eine der absehbar entstehenden Arbeiten (sprich: Werke) an die Hessische Kulturstiftung zur Weitergabe an eine hessische Kultureinrichtung, etwa ein Museum, gegeben werden. Die Katalogförderung bezog sich auf dieses Projekt. In Paris waren aber Arbeiten entstanden, die vorderhand gar nicht auf Veröffentlichung gemünzt waren oder wenigstens nicht dafür geeignet schienen. Entwürfe, Versuche, Erratisches. Die Identität dieser Keimzellen oder Fruchtlosigkeiten blieb vorderhand unbestimmt: medial, räumlich, zeitlich – Referenzen waren aufgelöst, das heißt, sie waren auf einen größeren Bogen hin angelegt. So hoffte jedenfalls der Künstler, seine Arbeit schien ihm ungreifbar im Anfang. Die Eckpunkte dieses Problems nannte er „intimer Raum“ und „Öffentlichkeit“, weniger hochtrabend heißt das: Atelier und Ausstellung.

Ein Aspekt dieser Sache findet sich in der Publikation Save the day, das das Museum für Moderne Kunst Frankfurt 1999 anlässlich einer Spendenaktion für das Museum zum 60. Geburtstag von Jean-Christophe Ammann herausgab. Zu sehen ist ein fotografierter Tropfen Blut auf dem frisch lackierten Fußboden des Pariser Ateliers, 1993. Spekulationen sind hierbei unvermeidlich. Die Frage ist, in welche Zusammenhänge die Dinge gestellt und aus welcher Perspektive sie betrachtet werden. Der Künstler arbeitet mit und in virtuellen Strukturen, deren Benennung zu ihrer Entzauberung (Ernüchterung) führt. Dies ist für mich auch heute noch von Interesse.

Reitz: Was mich auch interessiert im Gefüge Ihrer Pariser Zeit: Sie wollten, schrieben Sie, „die eigene Subjektivität zur Disposition stellen“. Wie sah (sieht) das aus – ist es Ihnen gelungen? 

Härtter: Was dieses „ich“ damals an die Hessische Kulturstiftung schrieb, kann vor dem Hintergrund des oben Gesagten betrachtet werden: Man setzt einen ideal gedachten und praktisch gemachten Ausgangspunkt, das so genannte Subjekt steht an zentraler Stelle. Was dies meint und heißen soll, sei dahingestellt. Man spricht zu einem Gegenüber. Kunst ist auf Öffentlichkeit hin angelegt. Courbets Gemälde seines Ateliers ist von allerlei (guten) Geistern bevölkert. Die so genannte Welthaltigkeit meines Handelns beschäftigt mich in dieser Hinsicht. Die Fingerspitze betätigt den Auslöseknopf der Kamera, und die Frage scheint in diesem einen Augenblick gelöst.

Reitz: Ich habe den Hinweis auf Courbet nicht verstanden; könnten Sie das etwas erläutern? Und was bedeutet Ihnen in diesem Zusammenhang „Welthaltigkeit“, was meint der Begriff? 

Härtter: Da ist ja die bekannte Geschichte zur Weltausstellung 1855. Sein Beitrag wurde abgelehnt, und er baute seinen eigenen Pavillon. Er zeigte das Bild L’Atelier du Peintre, monumental. Es gibt da auch das Bild Bonjour, Monsieur Courbet, man sieht ihn da auf der Landstraße zu Fuß mit seinem Malzeug auf dem Rücken. Ich hätte zu Paris natürlich auch aktuelle Namen nennen können, ich will es aber nicht, ich möchte keine Klangeffekte. Ich erwähnte Courbet, weil er seine Arbeit bereits in größerem Zusammenhang reflektiert hat, das heißt, der ganze Komplex aus Muse, Kritik und Sozialem ist zum Beispiel mit im Bild. Er arbeitete im Übrigen auch in Frankfurt. Nicht, dass ich mich im 19. Jahrhundert begründen wollte, mich interessieren hier sozusagen die Quellen, generelle Strukturen. Welthaltigkeit knüpft daran an, wie also derartige Punkte in die Arbeit eingewoben sind. Ich nehme zum Beispiel den Begriff „Weltausstellung“ in gewisser Weise wörtlich. Dabei reizt es mich, die Realität durch das Fensterokular der Kamera als Bild zu sehen, ohne zu wissen, was daraus entstehen soll. Ich will es gar nicht wissen. Mit einem einzigen leichten Druck der Fingerspitze fällt die ganze Szene ins Dunkel. Man könnte auch mit Bloch beflügelt sagen: ins Dunkel des gelebten Augenblicks. Die Idiotie des Ideals und die sichtbare Realität fallen in einem Nu und Punkt zusammen, und von da aus geht es weiter. Das öffentliche Kanalsystem ist auch ein Ort der Ausstellung, worin und wohin die ganze Chose mündet. Publikum ist nicht erforderlich, auch das ein Thema.

Reitz: Auch von dem Einüben von Vorstellungen war Ihrerseits die Rede. Welche? 

Härtter: Diese Frage würde ich gerne beantworten, weil ich keine Antwort schuldig bleiben möchte, doch sie erscheint mir schlichtweg unbeantwortbar. Es klingt so, wie wenn der Künstler das genaue Gegenteil dessen gesagt haben könnte, was er meinte. Bereits die Begriffe klingen gespreizt und prätentiös. Vielleicht hat er auch nur die Ironie vergessen. Ich weiß es nicht. Vielleicht hegte er die Vorstellung, die Dinge seien austauschbar, die, die er erzeugte, und die, die ihm begegneten. Er fotografierte in dieser Zeit. Ein Foto macht keine Unterschiede.

Reitz: Könnten Sie vielleicht diesen Zusammenhang noch ein wenig genauer beschreiben, den von Austauschbarkeit und Unterschieden?

Härtter: Ich sehe das hinsichtlich der Identität meiner Arbeit. Zunächst fotografierte ich nur, um meine Arbeiten, wie man sagt, zu dokumentieren. Es entstanden aber Definitionen auf einer neuen Ebene. Die Bilder dieser Ebene wurden eigenständig. Es kam zu einem Wechselspiel, und es folgten Installationen, Inszenierungen, Konstellationen. Die Identität der fotografierten Dinge löste sich auf, die Ebenen wurden austauschbar. Ich sah dies als Substanzerosion – mir ging es um den Grund.

Reitz: Nun ein paar Fragen, die nicht so sehr auf Ihren Paris-Aufenthalt abheben: Was mir bei der Betrachtung Ihrer Arbeiten, zum Beispiel die Portikus-Installation, auffiel, ist die Konformität von industrieller und künstlerischer Fertigung. Für den Fall, das ich nicht völlig daneben liege: Was interessiert Sie daran so? 

Härtter: Etwas zu machen, was von jedem anderen Menschen auch so gemacht werden könnte. Diese Arbeit entstand in der Tat für diesen Raum bzw. diese Institution. In diesem Zusammenhang ging es darum, den Horror Vacui derart auszudünnen, dass für die Idee von Malerei, Bild und Ausstellung lediglich so etwas wie ein aufs Podest gestellter Artefakt übrig blieb (Implosion).

Reitz: Ein Kritiker behauptete einmal, Sie versuchten der Malerei den Nimbus der Außerordentlichkeit zu nehmen dadurch, dass Sie das Hehre neben das Banale stellen, die Schönheit gegen das Triviale, das Kunstobjekt neben Alltagsgegenstände. Sehen Sie das selber auch so oder ist das die Chimäre eines Kunstbeflissenen? 

Härtter: Man zuckelt mit der Postkutsche durchs Land und steigt dann aus, um zu Fuß zu gehen. Es steht mir nicht zu, den Horizont des Kutschers als Chimäre abzutun.

Reitz: Hab ich überhaupt nicht verstanden (…). 

Härtter: Ich habe bildhaft geantwortet, um nicht die angeschlagenen Begriffe weiter einzufahren. Ich habe „Postkutsche“ gesagt, um nicht „Publikation“ zu sagen. Auch sagte ich „Kutscher“, um nicht „Kritiker“ zu sagen. Der Kutscher sitzt oben auf dem Bock, er überschaut die Szenerie. In der Tat beschäftigen mich Umkehrungen, Inversionen, die Verspiegelung von Identitäten. Ich weiß jedoch nicht, was die Begriffe Hehres und Banales, Schönheit und Triviales, – das Kunstobjekt ein Sonntagsgegenstand? -, erläutern sollen. Wenn man für die Arbeit derartige Nägel einschlägt, fällt wohl das Bild schon vorher von der Wand.

Reitz: Selbst auf die Gefahr hin, dass ich schwerstens danebenhaue, aber als Hintergrundecho vieler Ihrer Arbeiten vermeine ich den phänomenologischen Schlachtruf „zu den Sachen selbst“, das setzende und intentionale Bewusstsein, zu hören; Wirklichkeit ist eine Leistung des Zusammensetzens etc.. Könnten Sie dazu etwas sagen, zu Ihrem (theoretischen) Hintergrund? 

Härtter: Wenn ich diesen Schlachtruf höre, möchte ich schnellstens verduften. Es erscheint mir schlicht natürlich, eine Sache in die Hand zu nehmen und von allen Seiten zu betrachten. Ich denke konkret. Ich arbeite ohne (theoretischen) Hintergrund, ich folge dem, was sich ergibt. Einstellungssache. Von Norbert Elias stammt ein Satz, über den bin ich geradezu dankbar: „Die klassische Philosophie ist kognitiv völlig wertlos.“ Ich stolpere bereits über einfache Sätze. Die Identität der Sache liegt im Material, klingt wahr und falsch zugleich. Die Identität der Sache liegt im Kontext, klingt wahr und falsch zugleich. Die Identität der Sache liegt in der Vermittlung, klingt wahr und falsch zugleich. Einen Ansatz bot die Arte Povera, das heißt, der Ansatz, Realität konkret als semantische Struktur zu lesen: in jede Richtung. Begriffe halte ich als heiße Eisen. Mein Vater war Schmied. Mein Unverstand ist Ausgangspunkt. Im Blickfeld liegt der ganze Raum. Mehr kann ich momentan nicht dazu sagen.

Reitz: In der Rückschau, was hat Ihnen das Stipendium der Hessischen Kulturstiftung (HKST) gebracht, für Ihre persönliche Entwicklung, die künstlerische, vielleicht auch die finanzielle? 

Härtter: Man könnte umgekehrt auch fragen, was hat denn das Stipendium für die HKST, will sagen, für Hessen erbracht? Künstlerförderung ist Kunstförderung. „I drive a Rolls Royce because it’s good for my voice“, wie Marc Bolan sang, oder, wie der unbekannte Beuysianer sagt: Der Künstler arbeitet in gesellschaftlichem Auftrag. Ich sprach dies eingangs an, bei dem Stipendium handelte es sich um öffentliche Mittel, und es gab einen Vertrag. Es handelte sich nicht um ein Alimentierungs-, sondern um ein Kulturprogramm. Ich arbeite in langfristigen Prozessen: auch in und mit Strukturen ohne künstlerische Signifikanz. Meine Arbeit siedelt – wie beschrieben – zweckfrei im soziokulturellen Raum, mit Ursache und Folge: Identitätsaussparung, Friktion, Résistance. Dabei spielen diverse hessische Institute nicht ganz zufällig eine wesentliche Rolle; erst im Nachhinein, von heute aus gesehen, überschaue ich, dass vieles, was zum Tragen kam, erst durch das Stipendium der HKST ermöglicht wurde; es bot eine Grundlage.

Im Jahr 2001 erschien mit Mitteln der HKST ein limitierter Sonderdruck, Handexemplar. Die Ausstellung erfolgte direkt im Papier – ohne erläuternden Text. Dieser entwickelt sich im Lauf der Zeit und bei Gelegenheit. Hierzulande gilt die Erläuterung durch den Künstler eher als geistige Prostitution, in Frankreich hingegen eher als Tugend und Vermögen. Ich bin der Hessischen Kulturstiftung zu großem Dank verpflichtet. Ich wünsche, meine Pflichten zu erfüllen.

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